Die Räder der Zeit: Unterschied zwischen den Versionen
(Die Seite wurde neu angelegt: „Vorbemerkung: Der folgende Text ist die deutsche Übersetzung eines Vortrages, den ich auf Englisch auf dem WorldCon in Glasgow gehalten habe. Ich hoffe, er is…“) |
|||
Zeile 119: | Zeile 119: | ||
– Von Boeheim, Carl „Die Kaisersaga“, 1959<br> | – Von Boeheim, Carl „Die Kaisersaga“, 1959<br> | ||
– Ziegler, Thomas „Die Stimmen der Nacht“, 1984 | – Ziegler, Thomas „Die Stimmen der Nacht“, 1984 | ||
+ | [[Kategorie:Geschichte]] | ||
+ | [[Kategorie:Science Fiction]] |
Version vom 26. November 2023, 14:37 Uhr
Vorbemerkung: Der folgende Text ist die deutsche Übersetzung eines Vortrages, den ich auf Englisch auf dem WorldCon in Glasgow gehalten habe. Ich hoffe, er ist – trotz seiner Kürze – unterhaltend.
Im Gegensatz zu John Fogerty und seiner Aussage: „And I never lost one minute of sleeping/thinking about the way things might have been/Big wheel keep on turning/Proud Mary keep on burning“ habe ich beim Nachdenken über alternative Geschichte viel an Zeit – und auch Schlaf – verloren. Mein Name ist Hermann Ritter. Mein Titel als Historiker ist „cand. phil“. Dies bedeutet, dass ich fast alles erreicht habe, was man für einen Magister in Geschichte braucht. „Fast“ bedeutet natürlich, dass etwas noch fehlt. In diesem Falle ist es meine Magisterarbeit, meine einhundert oder so Seiten über „Kontrafaktische Geschichte“. Ich habe daran die letzten Monate gearbeitet, und ich glaube, dass ich noch einige weitere Monate brauchen werde.
Geschichte – und besonders die Art von Geschichte, die in Schulen und Hochschulen gelehrt wird – ist normalerweise sehr langweilig. Es gibt dort keine Vampire, keine Einhörner, keine Werwölfe, keine Elvis-Sichtungen, keine Gestaltwandler oder Magier. Nur normale Menschen. Und die meisten davon sind männlich.
Und Historiker glauben nicht an das Bermuda-Dreieck, die Entführung von Menschen durch kleine, braune Außerirdische, die Herrschaft der Illuminaten über die Menschheit, Atlantis, Blut, das vom Himmel regnet und Türen in andere Dimensionen. Alles, was phantastische Literatur interessant macht, fehlt in der Literatur über die Geschichte.
So warum beschäftige ich mich, der ich doch die klassische Art der deutschen Geschichte gelernt habe, mit dem Thema der alternativen Geschichte? Die Antwort ist einfach. Auf eine Art beschäftige ich mich gar nicht mit alternativer Geschichte. Ich spreche über kontrafaktische Geschichte. Dies ist Geschichte, die nach den anderen Möglichkeiten von Ereignissen schaut; hier sterben Kaiser im Kindbett und Attentäter verfehlen ihr Opfer. Diese kontrafaktische Geschichte verfolgt ein Ziel, sie will etwas beweisen oder widerlegen. Ihr Ziel ist es, das Wissen des Historikers zu erweitern. Und dass Wissenschaftler alles hassen, was nur einfach unterhaltend sein will, müssen wir glauben, dass sie es auch selber glauben.
Bevor ich mich nun in die Beschreibung des Zugangs von Historikern zum alternativen – besser: kontrafaktischen – Denken machen, muss ich ein paar Worte zu den grundsätzlichen Prinzipien des historischen Denkens loswerden. Die Wissenschaft der Geschichte muss einigen Gesetzen folgen, denen andere Formen des alternativen Denkens – besonders in der Form der phantastischen Literatur – nicht folgen müssen.
Warum gibt es überhaupt Gesetzte für historisches Denken? Geschichte definiert sich selbst als eine Wissenschaft. Dies heißt, dass sie einigen Gesetzen für die Erlangung und Verarbeitung von Fakten und Informationen folgen muss. Und sie braucht Gesetze, um aus diesen Fakten und Informationen nachvollziehbare Resultate zu erzielen. Und selbst die kontrafaktische Geschichte muss einigen dieser Gesetze folgen, damit wir sie „historisch“ und nicht einfach „blödsinnig“ nennen können.
Es gibt vier mehr oder weniger „goldene“ Regeln für die historische kontrafaktische Welt, die sie von den parallelen, alternativen und zeit-losen Welten der Science Fiction unterscheiden.
Das erste Gesetz sind die Naturgesetze. Dies meint, dass dieselben bekannten Naturgesetze für jede alternative Welt gelten müssen, die auch für unsere Welt gelten. Dies enthält die Abwesenheit von Superhelden. Und es gibt keine Bestien wie Harpyien oder Einhörner, keine Werwölfe, keine fliegenden Untertassen, keine Klone, keine Zeitreisenden etc. Okay, mit den „X-Files“, Charles Berlitz, Erich von Däniken und dem Roswell-Zwischenfall etc. in den Gehirnen der meisten Menschen könnten wir bereit sein zu glauben, dass es „da draußen“ Dinge und Kreaturen gibt, von denen die Geschichtswissenschaft noch nichts weiß. Aber solange die Wissenschaft für deren Existenz nicht Beweise hat, sind wir gezwungen, sie zu ignorieren. Sie fallen für den Historiker wie Zwerge und Elfen in den Bereich der „Märchenwelt“.
Diese Definition hat sich in der Vergangenheit schon auf andere Fakten bezogen – aber wir haben unsere Meinung dann geändert. Die Erde ist nicht flach, und ja, wir bezogen uns auf der Erde um die Sonne und vielleicht haben wir sogar wirklich dieselben Vorfahren wie die Affen. Ich bin nicht blöd, und ich bin gerne bereit zu glauben, dass es Dinge in unserer Welt gibt, von denen die Wissenschaft keine Ahnung hat. Aber solange wir keine Beweise haben – und ich meine wasserdichte, hundertprozentige Beweise –, solange müssen wir uns an die Fakten halten. Dies hat in der Vergangenheit funktioniert, und hoffentlich funktioniert dies auch in der Zukunft.
Das erste Gesetz ist das härteste der vier Gesetze, wenn es um die Wirkung auf die alternative Geschichte im Bereich der Science Fiction geht. Es schließt sogar einige meiner Lieblingsbücher aus dem Bereich der kontrafaktischen Geschichte aus, so z.B. „Zwischenhalt“ von Donald R. Bensen, „Joshua Niemandssohn“ von Nancy Freedman und „Zeiten ohne Zahl“ von John Brunner“. Aber es sind immer noch genug Bücher übrig.
Das zweite Gesetz ist das Gesetz der historischen Fakten. Der Grund dafür ist einfach: eine kontrafaktische Welt braucht eine faktische Welt, mit der sie verglichen werden kann. Wir haben nur ausreichend historische Fakten für die letzten dreitausend Jahre, und dies auch nur für den Bereich des Mittelmeerraumes – einige Teile der Welt sind bis in die Zeit des europäischen Mittelalters oder sogar bis ins 19. oder gar 20. Jahrhundert absolut unerforscht. Es könnte zwar sehr interessant sein, eine alternative Geschichte für die Einwohner der Insel Sokotran im 3. Jahrhundert nach Christus zu schreiben. Aber dies wäre nicht kontrafaktisch, da wir keine Fakten über diese Zeit und diesen Ort besitzen.
Ich weiß natürlich, dass die Welt älter ist als das Jahr 4004 vor Christus, und dass Bischof Usher im Unrecht war. Wir haben Beweise für Tausende von Jahren an menschlichen Siedlungen; wir haben Feuersteinklingen, Bilder und gekratzten Zeichen und Buchstaben. Aber diese Funde sind nur gering im Vergleich zu unseren Informationen über Caesar, Napoleon oder Winston Churchill. Und die Informationen, die wir durch Ausgrabungen – oder gar Texte und Bilder – erhalten sind bei weitem nicht ausreichend, um die politische und/oder soziale Situation eines Stammes oder einer Stadt zu rekonstruieren.
Für die alternativen Welten bedeutet dies, dass alle von ihnen, in denen die Unterscheidung/Trennung von unserer Welt vor dem Jahr 2000 vor Christus liegt, nicht als kontrafaktisch gezählt werden können, da es nicht möglich ist, von dort aus eine glaubhafte alternative Zeitlinie zu unser eigenen zu entwickeln, weil es uns an Informationen fehlt.
Und wenn der Unterschied zwischen beiden Welten in den letzten 4000 Jahren liegt, dann müssen wir immer noch einen genauen Blick darauf werfen, um herauszubekommen, ob die neue Welt wirklich kontrafaktisch ist oder „nur“ alternative Geschichte.
Ein Beispiel für einen tieferen – und wesentlich älteren – Unterschied wäre „Two Hawks from Earth“ von Philip Jose Farmer. In der beschriebenen Parallelwelt ist der amerikanische Kontinent nicht über den Wasserspiegel gestiegen, und nur einige der höheren Berge sind als Inseln vorhanden. Es ist völlig unmöglich die Wahrscheinlichkeit dieser Welt zu berechnen, da der Unterschied zu unserer Welt so groß ist, dass jeder Vergleich mit unserer Welt sinnlos und unmöglich ist.
Das dritte Gesetz ist das Gesetz der Wirkung. Nur Ereignisse, die eine Wirkung auf die historischen Ereignisse haben, sind als Grundlage einer kontrafaktischen Geschichte (oder auch nur einer alternativen Geschichte!) geeignet. Wenn etwas in einem verborgenen Tal – wie bei Shangri-La von James Hilton –, auf der dunklen Seite des Mondes oder auf dem Boden des Meeres passiert, und niemand beobachtet es, dann hat es für das Verständnis des Historikers einfach nicht stattgefunden. Und wenn zwei Millionen Amerikaner bei Nacht von Außerirdischen entführt und wieder zurückgebracht werden – und niemand kann sich danach daran erinnern! –, dann hat es im Maßstab der historischen Ereignisse einfach nicht stattgefunden.
Und der genannte Wandel hin zu einer kontrafaktischen Welt darf nicht zu einem Ergebnis führen, wo die beschriebene neue Ereignisfolge mit der alten, existierenden Ereignisfolge wieder in eine Ereignisfolge verschmilzt. Dies geschieht z.B. dem Zeitreisenden in Mark Twains „Ein Yankee aus Connecticut an König Artus‘ Hof“.
Die neue und die alte Zeitlinie müssen sich trennen, und sie müssen mindestens bis zum Punkt der Beschreibung der neuen Zeitlinie getrennt bleiben.
Das vierte und letzte Gesetz ist das Gesetz der Intention. James Bond ist keine kontrafaktische Geschichte, auch wenn die Bond-Filme Ereignisse beschreiben, die in unserer Welt nicht stattgefunden haben. Als Schliemann Troja ausgrub, veränderte er nicht alle anderen Bücher zu diesem Thema in alternative Geschichte. Er zeigte nur, dass sie Unrecht hatten. Die anderen Verfasser wollten alle das beschreiben, was wirklich passiert war – sie hatten die besten Absichten. Einen Fehler zu machen und dadurch eine falsche Sicht der Geschichte zu erzeugen ist nicht dasselbe wie eine Idee zu haben und absichtlich eine Alternativwelt zu erschaffen.
Kontrafaktische Geschichte muss geplant sein, um kontrafaktisch zu werden. Die meisten alternativen Geschichten (meiner Schätzung nach über 95 %) folgen dieser ungeschriebenen Regeln. Wenn man einen Blick in die alternative Geschichte wirft, findet man normalerweise Hinweise wie „Ist es nicht toll, dass John F. Kennedy damals in Dallas nicht erschossen worden ist!“ und/oder Hinweise auf die Existenz von bekannten Personen aus unserer Zeitlinie in neuen Rollen – Adolf Hitler als bekannter Maler in Wien oder Jesus, Sohn des Zimmermanns Joseph beobachtet die Eisenbahn, die durch das friedliche Imperium der Erben Alexander des Großen fährt, oder Fidel Castra arbeitet als Baseball-Trainer in den USA.
Eine dritte Möglichkeit ist der Hinweis auf die Existenz einer alternativen Welt zu der beschriebenen alternativen Welt – jemand entwirft in der Alternativwelt unsere Geschichte, oder träumt sie, oder beschreibt einfach die Möglichkeit ihrer Existenz. Durch diesen „Trick“ zeigt uns der Autor, dass er weiß was er tut und absichtlich so handelt.
Dies waren – in aller Kürze – die Gesetze der Geschichte hinter meinem Zugang zu kontrafaktischen Denken. Und es bleiben immer noch genug Alternativwelten übrig, die sogar dem kritischen Blick des Historikers entkommen sind. Um nur einige zu nennen: „Auf zu den Hesperiden“ von Robert Silverberg, „Der andere Sieger“ von Martin Cruz-Smith und „Die Kaisersaga“ von Carl von Boeheim.
Nun, da wir die Gesetze für den Zugang des Historikers zum kontrafaktischen Denken geklärt haben, können wir einen Blick auf die drei Gruppen an Material werfen, die Historiker über dieses Thema veröffentlicht haben.
Die erste Gruppe ist am einfachsten zu schreiben. Wir können sie „wargaming“ nennen. Sie geht mindestens zurück bis zu den preußischen Generälen, die Schlachten mit Zinnsoldaten nachgespielt haben. Und dieser Ansatz hat heute immer noch seinen Platz in der modernen Kriegsführung. Ich erinnere mich besonders gut an ein Szenario, da es die Atomisierung meiner Heimatstadt einschloss – ich meine „The Fulda Gap“, eine NATO-Planung (im Odenwald) von vor etwa zwölf Jahren oder so.
Schlachten – und auch Kriege – sind für kontrafaktische Ansätze sehr gut geeignet. Die beste Einführung, die ich finden konnte, steht in „Options of Command“ von Colonel Trevor N. Dupuy. Er beschreibt alternative Enden für Schlachten des zweiten Weltkrieges, und zwar von den Ardennen in 1940 bis zu den Ardennen in 1944. Um seinen Epilog zu zitieren: „There are some useful, as well as interesting, lessons to be drawn from the chapters in this book, which show how the course of events in World War II could have been changed, in some instances dramatically, had a few key men made some different decisions from those that actually were made.“ (S. 285)
Er beschreibt Schlachten einem mathematischen Gesetz folgend, das auf Carl von Clausewitz fußt – eine Formel für die Chancen für Sieg oder Niederlage, beruhend auf der Zahl der Truppen und variablen Umständen, die eine Truppe in der Schlacht beeinflussen (Gelände, Qualität der Ausrüstung und so weiter). Wenn man einen Teil der Formel verändert, dann könnte (müsste?) die Schlacht einen anderen Ausgang haben – einen kontrafaktischen.
Die meisten Beschreibungen von Schlachten durch Historiker enthalten eine Analyse der Ereignisse. Wenn die Franzosen sich nach links gewandt hätten ... Wenn die Schotten einen anderen Ort für die Schlacht gesucht hätten ... Und so weiter. Der Ansatz des „wargaming“ drückt einfach den „same player shoots again“-Knopf und beginnt die Schlacht von neuem.
Alle Brett- und Computerspiele über Schlachten und Krieg enthalten die Möglichkeit eines kontrafaktischen Ausgangs – sonst wäre es ja auch langweilig, weil von Anfang an feststände, wer wie einen Krieg/eine Schlacht gewinnt. Manche „wargames“ beginnen sogar von kontrafaktischen Startpunkten aus. Um nur einige zu nennen: „SS Amerika“, „Tomorrow the World!“, „Mississippi Banzai“ und „Wahoo!“.
Ich persönlich mag den Ansatz des „wargaming“ für die kontrafaktische Geschichte nicht besonders. Dies ist zum Teil ein moralisches Problem – ich mag es nicht, wenn Menschen nur durch Zahlen beschrieben werden – und zum Teil ist es ein Problem der Perspektive. Die Geschichte der Menschen ist reich. Sie hat Musik, Literatur, Tanz, Religion, Dichtkunst, Philosophie, Architektur und so weiter. Und sie hat den Krieg. Wenn man den Krieg als die einzige Grundlage für eine mögliche kontrafaktische Geschichte nimmt, dann kehrt man zu der Sichtweise zurück, nach der Geschichte vor fünfzig Jahren gelehrt wurde: die menschliche Geschichte als eine endlose Folge von Daten und Schlachten, von Jahren und Kriegen. Aber die Geschichte ist reicher als dies, und die kontrafaktische Geschichte sollte mehr als einen Aspekt der Geschichte einschließen.
Der zweite Zugang zur kontrafaktischen Geschichte ist langweilig, aber realistisch. Wir können ihn „Kliometrie“ („cliometrics“) nennen, und er ist ein Teil der „New Economic history“. Mein Verständnis der Kliometrie ist eher vage, daher zitiere ich zwei Absätze aus wichtigen Büchern über die Kliometrie. Diese Absätze erklären hoffentlich die Ziele der Kliometrie deutlicher, als ich es mit meinen eigenen Worten könnte.
„Cliometricians want the study of history to be based on explicit models of human behavior. They believe that historians do not really have a choice of using or not using behavioral models since all attempts to explain historical behavior – to relate the elemental facts of history to each other – whether called ideengeschichte, „historical imagination“, or „behavioral modelling“, involve some sort of model. The real choice is whether these models will be implicit, vague, incomplete, and internally inconsistent, as cliometricians contend is frequently the case in traditional historical research, or whether the models will be explicit, with all the relevant assumptions clearly stated, and formulated in such a manner as to be subject to rigorous empirical verification. The approach sometimes leads cliometricians to represent historical behavior by mathematical equations (...).” (Fogel, S. 25 f.)
Nun, da jeder Leser so gelangweilt ist, wie ich es war, als ich das zum ersten Mal las, kommen wir zum zweiten Zitat:
„Counterfactuals enter into historical analysis and into everyday discourse in at least two quite different ways. The first concerns causal analysis of fact, where counterfactual statements are used to underscore the importance of a particular causal factor that actually was operative in the situation under consideration. To cite but two fashionable examples, if slavery had not existed in America, then the Civil War would not have been fought; or alternatively, if railroads had not existed in America, then Gross National Product in 1890 would have been 5 percent less than it actually was. In both examples, the historian begins with the causal facts of the case, mentally removes one of those operative causal factors, and speculates about the residual in order to assess the importance of the factor mentally removed. (...) The second type of counterfactual speculation is difficult to summarize other than to say it is not associated with causal analysis of fact. A frequently used procedure is mentally to add (rather than subtract) a particular causal factor and speculate about the impact which that mentally added factor might have had. If Hitler had invaded England, if the Greeks had discovered gunpowder, if Grant had been given command of the Northern Army in 1862 – these are the type of speculations involved.“ (McClelland, S. 149)
Die Kliometrie benutzt den ersten Weg, die Subtraktion von Faktoren aus dem Berg der historischen Fakten. Interessanterweise benutzt die alternative Geschichte in der phantastischen Literatur meist den zweiten Zugang – sie addiert einen Faktor anstatt einen Faktor zu subtrahieren. Es scheint interessanter zu sein, Farbe zu einem historischen Bild hinzuzufügen, anstatt welche zu entfernen.
Das Vorgehen der Kliometrie ist sehr wissenschaftlich. Sie wird im Feld der Wirtschaftsgeschichte benutzt, in kontrafaktischen Berechnungen zum Verlauf der menschlichen Geschichte, falls eine ökonomische Entscheidung anders gewesen wäre. Kliometrie ist – bei der Erlangung von Informationen über die kontrafaktischen Bedingungen – ein sehr mathematischer Prozess. Aber die Kliometrie berücksichtigt mehr Faktoren als das „wargaming“ – und in der Kliometrie fließt kein Blut!
Die bekanntesten Arbeiten sind die von Fogel – „Railroads and American Economic Growth: Essays in econometric history” – und Fishlow – „American Railroads and the Transformation of the Ante-Bellum Economy“. Diese beschreiben die Möglichkeit einer kontrafaktischen ökonomischen Entwicklung in Nordamerika, basierend auf anderen Transportmöglichkeiten (in diesem Fall: Kanäle und Straßen) als der Eisenbahn.
Der dritte Zugang zur kontrafaktischen Geschichte ist für mich der interessanteste. Es ist der, mit dem ich die letzten Monate die meiste Zeit verbracht habe. Ich will ihn „Die Räder der Zeit“ nennen.
Die Geschichte kann keine Modelle bauen, sie hat keine Möglichkeit den Ausgang eines Ereignisses noch einmal durchzuspielen. Und sie kann die Regeln eines Szenarios nicht verändern – Pläne und Intentionen von historischen Figuren können oft nicht anhand ihres Ergebnisses bemessen werden, sondern nur anhand der Planungen. Was waren die Pläne von Stauffenbergs und seiner Kameraden für den Fall eines erfolgreichen Anschlags auf Adolf Hitler? Wie hätten die Spanier England erobert, wenn die Armada gelandet wäre? Gab es deutsche Pläne für das politische Überleben der Hohenzollern nach einem möglichen Waffenstillstand im Jahre 1918? Könnte der Süden im amerikanischen Bürgerkrieg auf einen Waffenstillstand hin gekämpft haben? Dies sind die Fragen, die den Historiker interessieren. Und dies ist der Punkt, an dem die kontrafaktische Geschichte für die Geschichtswissenschaft hilfreich sein kann.
Und während er dies tut, muss der Historiker seine eigene Einstellung zur Position des Einzelnen in der Geschichte definieren – und die Einstellung seines Berufes auch. Wenn man Napoleon aus der Geschichte herausnimmst – ist dann ein zweiter da, der seine Rolle übernehmen könnte? Und wenn man Stalin herausnimmt, James I., Martin Luther – würde sich die Geschichte in ihrem „normalen Gang“ weiterentwickeln, oder würde sie sich anders entwickeln als die uns bekannte Geschichte?
Und welche Faktoren machen denn Geschichte? Ist die Pest wichtiger als Leonardo da Vinci? Hat eine Sturmflut einen größeren Einfluss als ein Religionskrieg? Ist Beethovens Musik für die Menschheit wichtiger als die Schlacht von Tannenberg?
Und während wir uns mit möglicher alternativer – kontrafaktischer – Geschichte beschäftigen, finden wir heraus, wo unsere Lücken bei der Betrachtung anderer Kulturen liegen. Ein Beispiel: wenn die südamerikanischen Indianer die europäischen Invasoren zurückgetrieben hätten – wie sähe ihre Kultur heute aus? Haben wir genug Informationen, um das kulturelle und religiöse Leben eines kontrafaktischen aztekischen Imperiums im 20. Jahrhundert zu beschreiben? Wie hätte der Kult der gefiederten Schlange auf Kloning und Computer reagiert? Wäre Inka-Musik heute in den europäischen Discos „hip“? Wenn wir entlang dieser historischen Linien denken, dann werden wir bald herausfinden, dass wir eine Menge möglicher kontrafaktischer Welten nicht mit genug Informationsmaterial untermauern können, da uns das Material über die Seite der „Verlierer der Geschichte“ fehlt. Der Sieger schreibt immer noch Geschichte. Aber die kontrafaktische Geschichte könnte ein Weg sein, um einen besseren Blick auf den Verlierer zu werfen.
Die Geschichte der kontrafaktischen Geschichte beginnt 1931. Darko Suvin zieht das Jahr 1871 und die Veröffentlichung von Chesneys „Was England erwartet ...“ vor, und natürlich gibt es einige kontrafaktische Werke vor dem Jahr 1931 – so Charles Renouviers „Uchronie“ aus dem Jahre 1876 und „Als Wilhelm kam“ von Saki alias Hector Hugh Munro aus dem Jahre 1914.
Aber „If it had happened otherwise“ von J. C. Squire aus dem Jahre 1931 hatte eine wesentlich größere Wirkung als die anderen Titel, und dieses Buch war eindeutig nur für kontrafaktische Artikel herausgegeben worden. Es enthielt solche Meisterwerke wie „If Napoleon had escaped to America” von H.A.L. Fisher, „If Booth had missed Lincoln” von Milton Waldman, „If Napoleon had Won the Battle of Waterloo” von George Trevelyan und ein kontra-kontrafaktisches Meisterwerk von Winston Churchill, „If Lee had not won the Battle of Gettysburg“. Meiner Meinung nach war es dieses Buch, das die Faszination für das kontrafaktische Denken in der Geschichtswissenschaft angefeuert hat.
Ich werde nun versuchen, eine kurze Geschichte der kontrafaktischen Möglichkeiten für die letzten 4000 Jahre anzugeben. Neben den historischen Texten will ich – soweit möglich – auch Werke der phantastischen Literatur erwähnen, die dasselbe Thema behandeln. Dies geschieht in kontra-geschichtlicher Reihenfolge; beginnend mit den Jahren der Berge von Dokumenten und zurückgehend bis in die Zeiten der historischen Unsicherheit.
Das letzte Ereignis mit einem interessanten kontrafaktischen Ansatz war der chinesische Bürgerkrieg und ein geplanter Besuch Maos in den USA im Jahre 1945. Es gibt einen sehr interessanten Artikel von Barbara Tuchman zu diesem Thema – „Wenn Mao nach Washington gekommen wäre“. Er zeigt, dass noch im Jahre 1945 die amerikanischen Diplomaten in China auf einen Sieg der Nationalchinesen gehofft haben, und nicht auf die Kommunisten setzen wollten. Deshalb luden sie Mao nicht nach Washington ein – und verspielten sich damit die Möglichkeit für eine bessere Beziehung zwischen den USA und China für die nächsten Jahrzehnte.
Für den 2. Weltkrieg gibt es eine Menge an kontrafaktischen Informationen. Das beste Buch zu diesem Thema ist meiner Meinung nach Ralph Giordanos „Wenn Hitler den Krieg gewonnen hätte! Die Pläne der Nazis nach dem Endsieg“. Auch das oben erwähnte „Options of Command“ von Dupuy und Robert F. Burkes Artikel „A world in chains: The »New World Order« of the Axis Powers“ gehören zu diesem Themenkomplex.
Ein kontrafaktischer Artikel, der in Deutschland sehr stark diskutiert worden ist, ist Eberhard Jäckels „Wenn der Anschlag gelungen wäre ...“. Seine Diskussion der Ereignisse am 20. Juli 1944 und der weiteren Pläne der Gruppe um von Stauffenberg zeigt deutlich, dass selbst wenn Hitler von der Bombe getötet worden wäre, keine Chancen für einen politischen Sieg der Verschwörer oder gar nur für ihr reines Überleben bestanden.
Die glaubhafteren Ansätze über einen kontrafaktischen zweiten Weltkrieg denken über einen Waffenstillstand nach, der Deutschland eine stabile Grenze zu Russland und Frieden mit England und den USA bringt – ein vollständiger Sieg der Deutschen im zweiten Weltkrieg ist meiner Ansicht nach zu unwahrscheinlich um wirklich kontrafaktisch zu sein. Und doch hat der Autor von „The Rise and Fall of the Third Reich“, William L. Shirer, einen mehr oder weniger kontrafaktischen Artikel über einen deutschen Endsieg geschrieben – „If Hitler had Won World War II“. Er endet mit Roosevelts Tod im KZ Dachau und Hoffnungen auf einen siegreichen amerikanischen Widerstand in der Zukunft.
Die meisten Romane über einen kontrafaktischen zweiten Weltkrieg gehen aber von einem vollständigen deutschen Sieg aus. Len Deightons „SS-GB“ beschreibt die deutsche Herrschaft über Großbritannien, Philip K. Dicks „Das Orakel vom Berge“ beschreibt einen gemeinsamen deutsch-japanischen Sieg über die Alliierten, und in Brad Linaweavers „Moon of Ice“ entwickeln die Deutschen sogar die Raumfahrt. Linaweavers Buch ist sehr interessant, weil er die Effekte von Hörbigers „Welteislehre“ auf die deutsche Raumfahrt beschreibt. So fliegen die Deutschen nur zum Mond, um herauszubekommen, ob dieser wirklich aus Eis ist.
Eine nach dem Krieg spielende kontrafaktische Alternative für ein besiegtes Deutschland schildert Thomas Ziegler in „Die Stimmen der Nacht“. Hier wird der Morgenthau-Plan durchgezogen, und einigen der führenden Nazis gelingt es, in Südamerika eine neue Machtbasis aufzubauen.
Der erste Weltkrieg beschert uns „1917: What If the United States Had Remained Neutral?“ von Otis L. Graham jr. mit der Information, dass die Möglichkeiten für kontrafaktische Veränderungen vor dem ersten Weltkrieg geringer waren als – zum Beispiel – vor dem zweiten Weltkrieg.
Der amerikanische Bürgerkrieg – und die Schlacht von Gettysburg 1863 im Besonderen – machten ein Meisterwerk der kontra-kontrafaktischen Geschichte möglich: Winston S. Churchills „If Lee had not won the Battle of Gettysburg“. In seiner Welt, einer kontrafaktischen Welt, in der er diesen Artikel schreibt (der sofort kontra-kontrafaktisch wird), hält – nach einem anders verlaufenden amerikanischen Bürgerkrieg – in der (damaligen) Gegenwart im Jahre 1932 der deutsche Kaiser Wilhelm II. eine pan-europäische Friedenskonferenz im Berlin ab.
Die Landung – oder besser: Nicht-Landung – der spanischen Armada 1588 zeigt die Stärken des kontrafaktischen Denkens. Geoffrey Parkers Artikel „If the Armada had landed“ ist brillant, weil er dem Historiker Einsicht in die spanischen Pläne für die Zeit nach einer geglückten Landung der Armada gibt. Um Parker zu zitieren: „But a counterfactual approach still has its uses. It is essential when the historian wishes to assess the feasibility of a course of action or policy, and this is particularly desirable in early modern times when the obstacles which complicated any major military or naval operation were so enormous and imponderable.“ (S. 368). Eine direkte Umsetzung der Idee der erfolgreichen Landung der Armada ist John Brunners Roman „Zeiten ohne Zahl“.
Eine andere interessante Idee ist der Angriff der Türken auf Europa 1348 – aber nach den Effekten einer schlimmeren Pestepidemie. Das Buch dazu wäre „Auf zu den Hesperiden!“ von Robert Silverberg, der kontrafaktische Artikel über die Beulenpest wäre in Geoffrey Hawthornes „Die Welt ist alles, was möglich ist“ zu finden.
Die beiden letzten Beispiele sind von Arnold J. Toynbee. Das erste ist der tiefste Vorstoß in die Vergangenheit samt glaubhafter kontrafaktischer Geschichte, der mir bekannt ist – Toynbees Artikel „If Alexander the great had lived on“ schildert ein kontrafaktisches 4. Jahrhundert vor Christus. Hier erstreckt sich das Imperium Alexanders und seiner Erben von einem Ende der Welt bis zum anderen, und es bringt politischen wie religiösen Frieden zu allen Menschen – wenn nur Alexander weiter gelebt hätte ...
Das letzte Beispiel entstammt zwei kurzen Artikeln von Toynbee. Der erste – „The Forfeited Birthright of the Abortive Far Western Christian Civilization“ – zeigt uns einen Sieg der irischen christlichen Kirche über den römischen Zweig im 7. Jahrhundert. Der andere – „The Forfeited Birthright of the Abortive Scandinavian Civilization“ – zeigt uns eine Welt, in der die Skandinavier Konstantinopel im Jahre 860, Paris im Jahre 886 und London im Jahre 895 erobert haben. Diese beiden Artikel waren die Grundlage für eine brillante Kurzgeschichte von Lyon Sprague de Camp. Die Geschichte hieß „Die Räder der Zeit“.
So, es gab also einen tieferen Grund hinter diesem Artikel. Er handelt von Schriftstellern, die ihre Ideen aus der kontrafaktischen Geschichte erhalten, also um die Fiktion („fiction“), die von der Wissenschaft („science“) lernt. Vielleicht wird es eines Tages auch möglich sein, dass es andersherum geschieht – das die Wissenschaft („science“) von der Fiktion („fiction“) lernt ...
Ich hoffe, es war nicht all zu anstrengend, zuzuhören, wie ein Historiker über das spricht, was er am meisten liebt – Geschichte, sei sie nun faktisch oder kontrafaktisch. Danke.
Verwendete Literatur:
– Bensen, Donald R. „Zwischenhalt“ („And having writ ...“), 1978
– Brunner, John „Zeiten ohne Zahl” („Times without Number“), 1974
– Burke, Robert F. „A world in chains: The »New World Order« of the Axis Powers” in: „Command Magazine 13“, 1991, S 62-68
– Chamberlain, Gordon B. + Hacker, Barton C. „Pasts That Might Have Been: An Annotated Bibliography of Alternate History” in: „Extrapolation, Vol. 22, No. 4“, 1981
– Chesney, Tomkyn (?) „Was England erwartet ...“ („The Battle of Dorking“), 1871
– Cruz-Smith, Martin „Der andere Sieger” („The Indians Won“), 1970
– De Camp, Lyon Sprague „Die Räder der Zeit” („The Wheels of If“), 1940
– Deighton, Len „SS-GB” [„SS-GB“], 1978
– Dick, Philip K. „Das Orakel vom Berge” („The Man in the High Castle“), 1962
– Dupuy, Colonel Trevor N. „Options of Command“, 1984
– Farmer, Philip Jose „Two Hawks from Earth“, 1966
– Fishlow, Albert „American Railroads and the Transformation of the Ante-Bellum Economy“, 1965
– Fogel, Robert William „Railroads and American Economic Growth: Essays in econometric history“, 1964
– Fogel, Robert William „»Scientific« history and traditional history” in: Elton, G. R. and Fogel, Robert William „Which road to the past? Two views of history“, 1983
– Fogerty, John (CCR) „Proud Mary“
– Freedman, Nancy „Joshua Niemandssohn” („Joshua Son of None“), 1973
– Giordano, Ralph „When Hitler den Krieg gewonnen hätte! Die Pläne der Nazis nach dem Endsieg“, 1989
– Graham jr., Otis L. „1917: What If the United States Had Remained Neutral?“ in: Borden, Morton & Graham jr., Otis L. (Ed.) „Speculations on American History“, 1977, S. 103-117
– Hawthorne, Geoffrey „Die Welt ist alles, was möglich ist” („Plausible Worlds. Possibility and understanding in history and the social sciences“), 1991
– Hilton, James „Der verlorene Horizont“ („Lost Horizon“), 1933
– Jäckel, Eberhard „Wenn der Anschlag gelungen wäre ...“, 1974 in: „Umgang mit Vergangenheit: Beiträge zur Geschichte“, 1989
– Linaweaver, Brad „Moon of Ice“, 1988
– McClelland, Peter D. „Causal Explanation and Model Building in History, Economics, and the New Economic History“, 1975
– Parker, Geoffrey „If the Armada had landed“, 1974, in: „History 61“, 1976, S. 358-368
– Renouvier, Charles „Uchronie“, 1876
– Saki (= Hector Hugh Munro) „Als Wilhelm kam” („When William came. A Story of London under the Hohenzollerns“), 1914
– Shirer, William L. „If Hitler had Won World War II” in: Look Vol. 25 No. 26 (Dezember 1961), S. 27-44
– Silverberg, Robert „Auf zu den Hesperiden!“ („The Gate of Worlds“), 1967
– Squire, J. C. (Ed.) „If it had happened otherwise“, 1931
– Suvin, Darko „Victorian Science Fiction, 1871-85: The Rise of the Alternative History Sub-Genre” in: „Science-Fiction Studies, Volume 10“, 1983, S. 148-169
– Toynbee, Arnold „If Alexander the Great had Lived on” in: „Some problems of Greek History“, 1969, S. 441-486
– Toynbee, Arnold „The Forfeited Birthright of the Abortive Far Western Christian Civilization” in: „A Study of History“, Vol. II, p. 427-433
– Toynbee, Arnold „The Forfeited Birthright of the Abortive Scandinavian Civilization” in: „A Study of History“, Vol. II, p. 438-443
– Toynbee, Arnold „The Role of Individuals in Human Affairs” in: „Some problems of Greek History“, 1969, S. 418-420
– Tuchman, Barbara „Wenn Mao nach Washington gekommen ware” („If Mao Had Come to Washington: An Essay in Alternatives“), 1972
– Twain, Mark „Ein Yankee aus Connecticut an König Artus’ Hof” („A Connecticut Yankee in King Artus’ Court“), 1889
– Von Boeheim, Carl „Die Kaisersaga“, 1959
– Ziegler, Thomas „Die Stimmen der Nacht“, 1984