Hurli Harard, der hurtige Held aus Holmstedt, und Uller, der unbotmäßige Unhold aus Uppsala – ein Mythos im Wandel der Zeiten: Unterschied zwischen den Versionen
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− | wahrgenommen und diskutiert. | + | Beim Ansatz des Ignorierens geht man davon aus, dass die Zeitleiste nicht existiert. Es findet im Bewusstsein des Anwenders keine Veränderung seit dem Mittelalter statt; die Zeit und ihre Umstände bleiben gleich, ebenso die Gesellschaftsform, die Sprache und alle anderen Rahmenbedingungen. In einer Grafik sähe das so aus (siehe Illu 3). |
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− | mittelalterliche Weltsicht und die Einstellung | + | Die Idee des Imitierens/Kopierens wiederum versucht, die Zeitumstände des Mittelalters wiederzugeben, um sie erneut heraufzubeschwören. Im 21. Jahrhundert war das weit verbreitet: Man zieht sich entsprechende Kleidung an, spricht einen eigenartigen Dialekt (gerne als "Marktsprech" verhöhnt: "Werter Kunde, darf ich Euch itzo Anhänger präsentieren. Er kostet Euch auch nur dreißig Dublonen und ist aus edelstem Metalle gefertigt!") und ernährt sich am liebsten von Fladenbroten und Met.<br> |
− | zur Magie | + | Die Grafik sähe folgendermaßen aus (siehe Illu 4):<br> |
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− | im Bewusstsein des Anwenders keine Veränderung | + | Versuche, die Vergangenheit zu adaptieren, gehen davon aus, dass man die Zeitumstände für jede neue Periode verstehen muss, um zu erkennen, wie ein magisches Bild in das Weltbild eingepasst war. Die Grafik sähe folgendermaßen |
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− | ihre Umstände bleiben gleich, ebenso die Gesellschaftsform, | + | [[Datei:Illu 5.png|Illu1|right|miniatur|300px]]<br> |
− | die Sprache und alle anderen | + | <br> |
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− | so aus: | + | Die letzte Methode ist die des Initiierens. Man ignoriert einfach die (mystische und oft überhöhte) Vergangenheit und schafft eine magische Weltsicht im Hier und Jetzt. Dies hat den Vorteil, dass man aktuelle Zeitumstände verarbeiten kann, ignoriert aber gerne die Verhaftung in historischen Zusammenhängen. In meiner Darstellung sähe dies wie folgt aus (siehe Illu 6): |
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− | versucht, die Zeitumstände des Mittelalters wiederzugeben, | + | '''Die Struktur der Queste'''<br> |
− | um sie erneut heraufzubeschwören. | + | Die Suche nach magischer Erkenntnis folgt der Struktur einer Queste. Hierbei ist das Ziel der Queste immer Verständnis und Erleuchtung.<br> |
− | Im 21. Jahrhundert war das weit verbreitet: | + | Die Queste folgt einem vorgegebenen Verlauf, der in allen Questen kaum verändert wird. Dieser Verlauf ist Start – Reise – Ort samt Rätsel – Reise – Ort samt Kampf – Konflikt – Rettung – Erkenntnis – Rückreise – Ankunft am Start/Ziel.<br> |
− | Man zieht sich entsprechende Kleidung an, | + | Aus der Queste erhält man eine grundlegende Erkenntnis als Ergebnis: nur Freundschaft, Liebe und Gottvertrauen retten einen. Ein Ort in der Queste ist immer die Möglichkeit für einen Ritus zum Erlangen von Erkenntnis bzw. die Hilfe |
− | spricht einen eigenartigen Dialekt (gerne als | + | durch einen Ritus. In der Queste erfolgt Rettung gerne durch göttliche Eingriffe (auch gerne in Form eines "deux ex machina"). Am Ende der Queste kehrt man gewachsen und verändert heim, obwohl dieser Ort nicht mehr derselbe ist, weil man sich selbst verändert hat ("Man kann den selben Fluss nicht zwei Mal überqueren."). Die am Ende gewonnene Erkenntnis ist die Erkenntnis der Bedeutung von Freundschaft, Liebe und Gottvertrauen. Die Selbstveränderung initiiert Veränderungen an der Umwelt.<br> |
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das im 22. Jahrhundert wiederentdeckte nordische | das im 22. Jahrhundert wiederentdeckte nordische |
Version vom 5. Februar 2024, 15:30 Uhr
Vorbemerkung[1]
Herzlich willkommen zum Abschlussvortrag im Proseminar zur "Kurt-Oertel-Smmerakademie" 2315. Wir haben versucht, uns im Rahmen der Vorbereitungen mental in jenes 21. Jahrhundert zu begeben, das den Menschen heute als das "düstere Jahrhundert" bekannt ist.
Damals waren die Menschen auf einfache Utensilien angewiesen, um ihre Vorträge "an
den Mann" zu bringen. Daher reduzieren wir heute die technischen Möglichkeiten adäquat auf jene der damaligen Zeit in den Anfangsjahren der heidnisch-nordischen Renaissance – ein Referent, ein Flipchart und ein paar Eddings müssen ausreichen, um ein Gefühl für jene Epoche zu vermitteln.
Eines muss im Vorfeld klar und eindeutig gesagt sein: Religion und Magie sind größere "Felder" als das, was unsere Erfahrung abdecken kann. Dieser Vortrag kann also nur versuchen, einen Teil der Erfahrungen abzudecken, aber nie den Anspruch erheben, alles anzureißen (oder gar zu erklären). Selbst heute, nach über 300 Jahren Beschäftigung mit den Grundlagen der Magie und der Erkenntnis, dass die ganze Welt von Magie durchflutet wird, würde kein Magier, der etwas auf sich hält, behaupten, er könnte alles erklären.
Kommen wir nun zum inhaltlichen Teil. Bitte behalten Sie im Gedächtnis, dass wir uns mental im frühen 21. Jahrhundert befinden, wenn es um die Diskussionen des magischen Weltbilds geht.
Die fünf Möglichkeiten des magischen Weltbilds
Es gibt verschiedene Möglichkeiten, wie man mit einem magischen Weltbild umgehen kann. Prinzipiell sind das folgende fünf Verfahren:
1. Rekonstruieren
2. Ignorieren
3. Imitieren/Kopieren
4. Adaptieren
5. Initiieren
Stellen wir uns eine Zeitleiste vor, auf der die Zeit als Linie von links nach rechts dargestellt wird (siehe Illu 1).
Hierbei ist das Mittelalter stellvertretend für eine Epoche zu sehen, in der Heiden noch Heiden sein konnten, in jedem finsteren Wald ein Drache hauste und Magie funktionierte. Man möge diesen etwas blauäugigen Ansatz verzeihen, aber so oder so ähnlich haben Heiden im frühen 21. Jahrhundert die heidnische Vergangenheit wahrgenommen und diskutiert.
Rekonstruieren
Beim Ansatz des Rekonstruierens wird nun versucht, die Erfahrungen aus dem Mittelalter, die mittelalterliche Weltsicht und die Einstellung zur Magie "nachzubauen", eben zu re-konstruieren (siehe Illu 2).
Ignorieren
Beim Ansatz des Ignorierens geht man davon aus, dass die Zeitleiste nicht existiert. Es findet im Bewusstsein des Anwenders keine Veränderung seit dem Mittelalter statt; die Zeit und ihre Umstände bleiben gleich, ebenso die Gesellschaftsform, die Sprache und alle anderen Rahmenbedingungen. In einer Grafik sähe das so aus (siehe Illu 3).
Imitieren/Kopieren
Die Idee des Imitierens/Kopierens wiederum versucht, die Zeitumstände des Mittelalters wiederzugeben, um sie erneut heraufzubeschwören. Im 21. Jahrhundert war das weit verbreitet: Man zieht sich entsprechende Kleidung an, spricht einen eigenartigen Dialekt (gerne als "Marktsprech" verhöhnt: "Werter Kunde, darf ich Euch itzo Anhänger präsentieren. Er kostet Euch auch nur dreißig Dublonen und ist aus edelstem Metalle gefertigt!") und ernährt sich am liebsten von Fladenbroten und Met.
Die Grafik sähe folgendermaßen aus (siehe Illu 4):
Adaptieren
Versuche, die Vergangenheit zu adaptieren, gehen davon aus, dass man die Zeitumstände für jede neue Periode verstehen muss, um zu erkennen, wie ein magisches Bild in das Weltbild eingepasst war. Die Grafik sähe folgendermaßen
aus (siehe Illu 5):
Initiieren
Die letzte Methode ist die des Initiierens. Man ignoriert einfach die (mystische und oft überhöhte) Vergangenheit und schafft eine magische Weltsicht im Hier und Jetzt. Dies hat den Vorteil, dass man aktuelle Zeitumstände verarbeiten kann, ignoriert aber gerne die Verhaftung in historischen Zusammenhängen. In meiner Darstellung sähe dies wie folgt aus (siehe Illu 6):
Die Struktur der Queste
Die Suche nach magischer Erkenntnis folgt der Struktur einer Queste. Hierbei ist das Ziel der Queste immer Verständnis und Erleuchtung.
Die Queste folgt einem vorgegebenen Verlauf, der in allen Questen kaum verändert wird. Dieser Verlauf ist Start – Reise – Ort samt Rätsel – Reise – Ort samt Kampf – Konflikt – Rettung – Erkenntnis – Rückreise – Ankunft am Start/Ziel.
Aus der Queste erhält man eine grundlegende Erkenntnis als Ergebnis: nur Freundschaft, Liebe und Gottvertrauen retten einen. Ein Ort in der Queste ist immer die Möglichkeit für einen Ritus zum Erlangen von Erkenntnis bzw. die Hilfe
durch einen Ritus. In der Queste erfolgt Rettung gerne durch göttliche Eingriffe (auch gerne in Form eines "deux ex machina"). Am Ende der Queste kehrt man gewachsen und verändert heim, obwohl dieser Ort nicht mehr derselbe ist, weil man sich selbst verändert hat ("Man kann den selben Fluss nicht zwei Mal überqueren."). Die am Ende gewonnene Erkenntnis ist die Erkenntnis der Bedeutung von Freundschaft, Liebe und Gottvertrauen. Die Selbstveränderung initiiert Veränderungen an der Umwelt.
Da heute sicherlich jeder aus der Schulzeit
das im 22. Jahrhundert wiederentdeckte nordische
Epos „Hurli Harard, der hurtige Held aus
Holmstedt, und Uller, der unbotmäßige Unhold
aus Uppsala“ kennt, wollen wir die fünf Ansätze
kurz an diesem Epos und seiner grundlegenden
Queste durchspielen.
Rekonstruieren
Die Fragen, die beim Rekonstruieren gestellt
werden, beschäftigen sich weniger mit der Botschaft
des Mythos, sondern mit seinen Rahmenbedingungen.
Dann werden Fragen gestellt wie
„Wo lag Holmstedt?“ oder „Wer waren Ullers Eltern?“,
wissenschaftliche Symposien diskutieren
Fragen wie „Der Unhold Uller und Parallelen zu
finnischen Quellen zur Kalevala“. Dieser Ansatz
ist aus Bibelarbeit bekannt, wo Jesus in historischen
Zusammenhängen dargestellt wurde, die
dann ellenlang diskutiert und gedeutet wurden.
Ignorieren
Hier ist die Vorgehensweise einfach: Man ignoriert
sämtliche gewonnenen Erkenntnisse
bezüglich des Epos, Fortschritte in der Wissenschaft
und/oder gesellschaftliche Entwicklungen.
Beispiele sind die aus dem 21. Jahrhundert
bekannten Mittelaltergruppen (Schlagwort:
„Re-Enactment“), die Amish und Teile des Islam
im 21. Jahrhundert. „Gott will es“, und darum
ist es heute genauso richtig wie im Jahre 35,
625 oder 2012 unserer Zeitrechnung.
Imitieren/kopieren
Ohne Zwischenschritte wird hier der Originalmythos
direkt in die Gegenwart versetzt.
Der Epos hieße dann vielleicht für einen Magier
des späten 21. Jahrhunderts „Kurt Koertel, der
kundige Kieser aus Kiel und Uwe Uhrenhufer,
der urige Urwaldbewohner“. Es findet (um ein
„neudeutsches“ Wort zu verwenden) ein „reboot“
des alten Mythos statt, der damit direkt
von der Ursprungszeit in die Gegenwart versetzt
wird.
Adaptieren
Die Adaption unterteilt die Kopie in eine Vielzahl
von Zwischenschritten, der Mythos wird in
einem Zyklus immer neu interpretiert und für
die Gegenwart „gewonnen“; jede Generation/
Kohorte adaptiert den Mythos für sich. Motor
einer solchen Adaption sind Mysterienspiele,
Wallfahrten, Initiationsriten, dabei erfolgt eine
vorsichtige Modernisierung der Rahmenbedingungen.
Ein Beispiel für eine solche Adaption ist die
Wirkungsgeschichte des Judentums. Ein anderes
Beispiel ist die christliche Mär vom Teilen
von Brot und Fisch durch Jesus. Während hier
ursprünglich von einer klima- und kulturgerechten
Teigware und einem haltbar gemachten,
für die örtlichen Gewässer typischen Fisch
die Rede war, wird dieses biblische Gleichnis in
jeder anderen Kultur mit den dort bekannten
Brot- und Fischsorten visualisiert, das Gleichnis
damit adaptiert.
32 – Hurli Harard, der hurtige Held
Initiieren
Hier geht es um Extraktion der wichtigsten
Punkte (meist sind dies die Grundlagen der
Queste), dann erfolgt ein tatsächlicher Neustart.
In der Anfangsphase entwickeln solche Gruppen
(wegen ihrer leicht verständlichen Terminologie)
eine große Zugkraft, die aber erlischt,
wenn die anfänglichen Träger der Bewegung
(„Gründer“, „Propheten“ etc.) verstorben sind
bzw. die Bewegung verlassen haben. Beispiele
wären die „Church of All Worlds“ im 20. Jahrhundert
oder die „Neo-Phlogistonisten“ im 22.
Jahrhundert.
Ist die Rekonstruktion einer vergangenen
Epoche realistisch?
Zwischen Selbst und Umwelt liegen die Sinne
als Wahrnehmungskorridor. Dieser Wahrnehmungskorridor
wird durch verschiedenste Dinge
beeinflusst.
Drei Aspekte möchte ich kurz herausgreifen.
Der erste Aspekt ist die Rolle von Selbst,
Bewusstsein und Sinnen für unseren Wahrnehmungskorridor.
Der zweite Aspekt ist das „Sonderthema“
der Sprache, der dritte (und größte)
Aspekt ist der Einfluss der Umwelt, genauer der
Gesellschaft („Umwelt I“) und der Welt („Umwelt
II“).
Selbst, Bewusstsein, Sinne
Das Thema Selbst ist schwierig zu besprechen,
da hier der „Abgrund der Zeit“ die schlimmsten
Vermittlungsschwierigkeiten aufbaut.
Im frühen 21. Jahrhundert wurde dieses
Thema immer wieder diskutiert: Wie verändert
sich das Verhältnis zum „Leib“ im Lauf
der Zeit? Wie verhält sich das mit der Nahrung
– hat nicht zum Beispiel die Einfuhr der Kartoffel
nach Europa unsere Nahrung völlig verändert,
was ist mit dem Verschwinden bekannter
Nahrungsmittel und der Saison-übergreifenden
Erreichbarkeit von Nahrungsmitteln, die
eigentlich an bestimmte Jahreszeiten gebunden
waren? Wie gehen wir mit Schmerz, Krankheit
und Tod um? Wie sieht es mit der Unversehrtheit
des Körpers aus? Wie stehen Heiden zu
Verstümmelungen? In den 1970ern war es noch
selbstverständlich, dass Kriegsopfer (Einbeinige,
Einarmige, Blinde) das Straßenbild prägten.
Hat ihr „Verschwinden“ nicht auch die Gesellschaft
geprägt – und wie sieht es mit dem Umgang
mit Sterbenden oder Behinderten aus, die
wir aus der Gesellschaft „herausnehmen“ und
in bestimmten Institutionen „verwahren“? Wie
geht man mit Tätowierungen und Narben aus,
wie mit Implantaten? Hat sich durch HIV nicht
das Blut-Tabu wieder verstärkt – wer leistet im
21. Jahrhundert noch einen Blutschwur oder
schließt Blutsbruderschaft? Wie sieht es mit
den Veränderungen durch Implantate (Herzschrittmacher),
Ersatzteile (Hüftgelenke) oder
Depot-Medikamente aus? Verändert sich die
Sicht auf das Selbst und die daraus und darauf
wirkende Magie dabei nicht grundsätzlich?
Wie verändert sich unsere Wahrnehmung
von Bewusstsein durch die Veränderung dessen,
was wir als gesund betrachten? Früher waren
Geisteskranke Teil der Gesellschaft, einige
Gesellschaften akzeptierten sie als besonders
von den Göttern geschlagen oder gezeichnet.
Wir schließen sie weg – was sagt das über die
Gesellschaft aus? Wie gehen wir damit um, dass
die weit zugänglichen Medikamente und Drogen
natürlich auch die Psyche verändern? Wie
hat die Einführung der Psychologie die Wahrnehmung
von Bewusstsein verändert? Gab es
ein Über-Ich, bevor Freud es fand?
Und unsere Sinne haben einen Wandel
durchlebt. Wir sehen Farben, ohne zu erkennen,
dass die Grenzen von Farben zu anderen
Farben nicht naturwissenschaftlich, sondern
gesellschaftlich gezogen werden (wie auch die
Bedeutung von Farben, z.B. dem Schwarz oder
Weiß für Trauer). Hat sich unser Hören nicht
Hurli Harard, der hurtige Held – 33
dadurch verändert, dass wir andauernd und
überall kommunizieren können und die Stille
verlernt haben? Hat sich unser Schmecken nicht
durch starke Einflüsse wie Schokolade oder Tabak
völlig verändert? Wie verändert sich unser
Riechen dadurch, dass Menschen inzwischen
(meist) gewaschen und sauber sind, so dass wir
Körpergerüche nur noch wahrnehmen, wenn
sie „störend“ sind (und ab wann sind sie das?).
Hat sich unser Fühlen nicht verändert, weil wir
klimatisierte Räumlichkeiten gewöhnt sind, in
denen wir nicht frieren? Und damit habe ich
unsere Gefühle noch nicht angesprochen, die
natürlich auch einem Wandel unterzogen sind
– oder? Wie vergleichen wir „Liebe“ im 11. Jahrhundert
mit „Liebe“ im 16. Jahrhundert oder
„Liebe“ im 21. Jahrhundert?
Sonderthema: Sprache
(Auch hier die Erinnerung: Wir betrachten die
Erkenntnisse des 21. Jahrhunderts!)
Sprache ist ein Sonderthema, weil sie uns so
selbstverständlich ist, ohne dass wir über ihre
Möglichkeiten und Grenzen nachdenken.
Wie sieht es mit dem Kontext von Aussagen
aus? Können wir Anspielungen überhaupt noch
verstehen, die in früheren Jahrhunderten Bedeutung
hatten, diese aber verloren? Verstehen
wir Wortspiele auf frühere Herrscher oder damals
aktuelle politische Entwicklungen?
Wie wirkt sich der Wortverlust aus? Früher
kannten alle die Begriffe für die verschiedenen
Farben von Pferden (Falbe, Fuchs, Brauner,
Schimmel, Schecke etc.) – diese Begriffe sind
aus dem täglichen Sprachgebrauch ebenso verschwunden
wie landwirtschaftliche Begriffe
(Egge) oder berufliche Fachworte (wie in der
Druckersprache die Begriffe Hurenkind und
Schusterjunge). Die Schulbildung erzeugt einen
Kanon von zitierbarer Literatur, die Gesellschaft
einen Kanon an zitierbaren Symbolen. Und eine
Alterskolonne wird durch gemeinsame Erinnerungen
an Filme und Musik geprägt, die schon
für einen Erwachsenen des 21. Jahrhunderts gegenüber
seinen Eltern oder seinen Kindern eine
unüberbrückbare Distanz erzeugt.
Wie ist es mit Wörtern, die gleich klingen,
aber unterschiedliche Bedeutungen haben
(„Teekessel“ genannt) – oder Wörtern, die früher
gleich klangen, sich aber auseinanderentwickelt
habe (im Englischen z.B. „horse“ und „whores“
oder die Unterscheidung vom lateinischen „lingua“
in Sprache und Zunge im Deutschen).
Wenn sich im 19. Jahrhundert drei Heiden
am Genfer See trafen, dann sprachen sie französisch
und bezogen sich auf antike Mythen, wenn
sie über Magie sprachen. Wenn sich im 21. Jahrhundert
drei Heiden am Genfer See trafen, dann
sprachen sie englisch und bezogen sich auf „Star
Trek“. Die Konnotationen, welche bekannte Filme
erzeugen, sind in einer Gesellschaft mannigfaltig,
aber über die Zeit schwer übersetzbar
(man denke nur an den Übersetzungsfehler von
„May the Force be with you“ aus „Star Wars“ in
„Möge der 4. Mai mit dir sein!“).
Wird die Leseerfahrung nicht dadurch geprägt,
dass ab dem 21. Jahrhundert das Buch immer
mehr gegenüber einer nebulösen „Cloud“
zurückgeht, die sich „irgendwo“ im Internet befindet?
Wer früher seinem Kind seine eigenen
alten Kinderbücher schenkte, gibt der ihm dann
Hinweise auf den Speicherplatz der Werke?
„Worüber man nicht sprechen kann, darüber
muss man schweigen.“2 Bildung und Kultur, Medien
und Umgang beeinflussen Sprache, Sprachentwicklung
und Sprachbenutzung. In einer
magischen Tradition, die viele Dinge benennen
muss, um sie zu beherrschen (erinnern Sie sich:
das 21. Jahrhundert war von „Magie, nur mit
den Händen“ noch weit entfernt), ist die Sprache
der Zugang zur Magie. Wenn man zulässt, dass
die Quelle versiegt, aus der die Sprache fließt,
2 Ludwig Wittgenstein, „Tractatus logica-philosphicus“,
Abschnitt 7
34 – Hurli Harard, der hurtige Held
dann wird man nicht nur durstig, sondern kann
die Zunge irgendwann nicht mehr nutzen.
Gesellschaft (Umwelt I) und Welt (Umwelt II)
Unsere Distanz zu einer heidnischen Hochzeit3
in der Vergangenheit umfasst (vom 21. Jahrhundert
aus betrachtet) diverse Jahrhunderte. Es ist
nur möglich, ein paar Aspekte anzureißen; ein
Gesamtüberblick würde den Rahmen dieses
Vortrags sicher sprengen.
Um zu zeigen, welche Bereiche nicht angesprochen
werden, weil uns die Zeit dafür fehlt,
sei die Rolle der Familie genannt. Nicht nur, dass
sich die Familie völlig verändert hat (durch eine
erhöhte Lebenserwartung und weniger Kinder),
auch die Begrifflichkeiten haben sich verändert
(wer weiß heute noch, wer die Muhme ist?).
Wir nehmen die Zeit völlig anders wahr. Wir
sind durch Uhren und Kalender in einen künstlichen
Jahreskreis eingebunden, der sich von
Aussaat und Ernte entfernt hat. Unsere höhere
Lebenserwartung erweitert unseren Zeithorizont;
im frühen 21. Jahrhundert war es für einen
Jugendlichen möglich, einen Zeitzeugen der
Zeit um 1920 kennenzulernen, der selbst über
seine Erfahrungen berichten konnte. In früheren
Jahrhunderten war dies undenkbar.
Und die Symbole haben sich in ihrer Bedeutung
geändert. Erst die Möglichkeit der bequemen
Reproduzierbarkeit von Symbolen durch
Druckmaschinen machte sie zu einem kopierbaren
Massenphänomen. Und die tiefen Spuren,
welche die Nationalsozialisten auf vielen heidnischen
Symbolen hinterlassen haben, machten
viele Symbole für Heiden „unbenutzbar“, weil
diese Symbole „verschmutzt“ waren.
Unter dem Begriff „Umwelt I“ verstehe ich
den Komplex aus Wohnen und Arbeit; aber
diese sind nicht unbeeinflusst von sozialen Bezügen.
3 Die Hochzeit, nicht die Hochzeit!
Wir wohnen völlig anders als vor 100 Jahren.
Es gibt Toiletten, fließend Wasser und Bäder.
Es gibt Aufzüge und Kinderzimmer. Es gibt ein
Recht auf eine eigene Wohnung als geschützten
Raum.
Und unser Verständnis von Arbeit ist völlig
anders geworden. Nach einer (beinahe) Vollbeschäftigung
in den 1980ern folgt eine (wenn
auch kaschierte) Massenarbeitslosigkeit im frühen
21. Jahrhundert, verbunden mit einem Verlust
der Kaufkraft und einem Verlust des Selbstwertgefühls.
Die Arbeit wurde entmenschlicht;
kaum noch kann jemand fertige Dinge produzieren,
sondern er ist an die Produktion von
Zwischenschritten gekoppelt, die ihn vom fertigen
Produkt entfremden.
Die sozialen Bezüge haben sich geändert. Ich
bin schon auf Behinderungen und Krankheiten
eingegangen, aber darüber hinaus unterscheiden
sich unsere Erfahrungen im Umgang mit fundamentalen
Dingen wie Alter und Hunger völlig
von denen der Kriegs- oder Nachkriegsgeneration.
Die lange Friedensphase, die in Westeuropa
seit 1945 herrscht, hat Kriegserfahrungen (zum
Glück) aus unserem Erfahrungsschatz getilgt.
Wie nehmen wir Geschlechter wahr? Es gibt
im 21. Jahrhundert keine Kastraten mehr, aber
die Unterscheidung zwischen männlich und
weiblich lässt inzwischen viele neue Zwischentöne
zu, sowohl in der körperlichen Form als
auch in der Ausgestaltung der eigenen Sexualität.
Die Gender-Diskussion, die dadurch erfolgte
Veränderung der Sprache („Heid_innen“)
und das Recht auf allgemeine Gleichbehandlung
haben die Gesellschaft nachhaltig geändert.
Wie stehen wir zu Fortpflanzung und Fruchtbarkeit?
Die „Kinderarmut“ des späten 20. und
frühen 21. Jahrhunderts ist mit keiner anderen
Ära zu vergleichen, warum soll sie nicht unsere
Wahrnehmung verändert haben?
Wie steht man als Heide zur Politik? Ist
die Ethik der Aufklärung verweht, wo ist der
Hurli Harard, der hurtige Held – 35
Kommunismus hin, der doch mit einem solch
magischen Pathos begonnen hat („Es geht ein
Gespenst um in Europa“). Wie steht man zu
Liberalismus und Humanismus, die doch (zumindest
im 19. Jahrhundert) Grundpfeiler einer
magischen Renaissance waren?
Und wie geht man im 21. Jahrhundert mit
dem Schreckgespenst des Islamismus um, das
wie in der Zeit des Kalten Kriegs bei den „Roten
Horden“ ein Bild projiziert, was von der Wahrheit
weit entfernt ist?
Unter der Bezeichnung „Umwelt II“ möchte
ich mich kurz mit der Welt beschäftigen. Unsere
Wahrnehmung der Erde hat sich durch die (ausgesprochen
ungenauen) geografischen Karten
verändert, die eine erklärt subjektive Wahrnehmung
der Welt durch eine aufgepfropfte objektive
Sicht zu verändern drohen. Dabei leben wir
doch mit mentalen Karten, die uns die Entfernung
anzeigen. In einer Gesellschaft, in der man
nur zu Fuß gehen konnte, war die Umgebung in
konzentrischen Kreisen organisiert, abhängig
von der Reisegeschwindigkeit und der erreichbaren
Entfernung an einem, zwei oder mehr
Tagen (nur gehindert durch Hindernisse oder
eine sinnvolle Wegwahl erweitert). Heute haben
wir mentale Karten, die – „dank“ Auto und
Flugzeug – die Strecke zu einem Ort nahe des
Flughafens in Athen oder Moskau leichter und
schneller machen als die zu Fuß in die hintersten
Ecken des übernächsten Waldes oder per Autobahn
über die Alpen. Wir nehmen Landschaft
nicht mehr wahr, sondern durchfahren sie nur,
können keine Karten mehr lesen sondern vertrauen
(trotz aller gegenteiligen Hinweise) dem
Navigationsgerät.
Und wir haben die Landschaft massiv verändert
– durch Tunnel und Gleise, durch Brücken
und Kanäle, durch Hausbau und Abholzung.
Die Welt ist in Mitteleuropa vom Menschen dermaßen
geformt, dass eine „urwüchsige Landschaft“
im Menschen Angst weckt, weil er sie
nicht kennt (und auch nicht kennen kann, weil
sie in seinem Leben nicht stattfindet).
Wo ist der Sternenhimmel hin verschwunden,
den die städtische Beleuchtung auslöscht?
Was wurde aus der Erde als dem Zentrum des
Universums nach der Erkenntnis des heliozentrischen
Weltbildes? Wie verändert die Nähe
zu Amerika oder Australien, die Einbeziehung
von Hawaii in unseren Kulturkreis die Wahrnehmung
der Welt? Was veränderte sich, als die
letzten weißen Flecken am Pol und im Herzen
Afrikas von den Karten verschwanden?
Wenn man an das 20. Jahrhundert erinnert,
dann erinnert man daran, dass der Mond auf
einmal in die Reichweite der Menschheit geriet
– und dass Pluto erst im 20. Jahrhundert
als neuer Planet entdeckt wurde, um dann seinen
Status im 21. Jahrhundert zu verlieren. Die
„final frontier“ verschob sich in den Weltraum,
und dort blieb sie.
Hat die Einstein‘sche Formel „E=mc²“ nicht
unsere Einstellung zu Reisen, zu Distanz und
Geschwindigkeit verändert, ist das Schlagwort
von der Lichtmauer nicht dafür zuständig, dass
wir begriffen haben, dass der erreichbare Raum
immer begrenzt bleiben wird?
Ist unser Verständnis von der Erde als einem
Class M-Planeten in einem Nebenarm einer
unbedeutenden Galaxis nicht ursächlich daran
schuld, dass wir uns als Spezies im Gesamtplan
des Universums nicht mehr als so wichtig
sehen? Erzeugt die subtrahierende Lösung, die
vom Universum die Plätze abzieht, wo Gott sicher
nicht ist, weil Menschen ihn dort nicht gefunden
haben, nicht dafür zuständig, dass wir
Gott minimieren, ihm Restplätze zuweisen, anstatt
ihn überall wirken zu lassen?
Lokale oder an eine Ethnie gebundene Götter
haben Verkündungsprobleme, denn die Grenzen
von Räumen oder Ethnien werden immer
durchlässiger, immer unzuverlässiger, wo sich
Geografie und Genetik weiter entwickelt haben.
36 – Hurli Harard, der hurtige Held
Passend zur christlichen Verkündung lag Jerusalem
auf alten Karten im Zentrum der Welt,
im Zentrum der drei Weltgegenden Afrika, Asien
und Europa. Die drei Könige, die sich vor Jesu
verbeugten, waren auch die drei Kontinente mit
einem schwarzen, einem weißen und einem semitischen
König. Wir haben dieses Bild verloren
und können die Ikonografie nicht mehr lesen.
Können wir ohne Vermittlung einen Menschen
des 12. Jahrhunderts verstehen? Nein.
Aber eine Antwort können wir dank C. S.
Lewis und „Perelandra“ geben, nämlich die
Antwort auf die Frage, ob die christliche Schöpfung
samt Sündenfall auf anderen Planeten
auch stattgefunden hat. Für Lewis sind wir die
Bewohner des schweigenden Sterns, der als einziger
nicht in der Schöpfung singt. Manchmal
liest man aus den Science Fiction-Büchern und
-Filmen des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts
den Wunsch der Menschen heraus, im
Weltraum nicht allein zu sein – um doch immer
wieder enttäuscht zu werden.
Folgerungen
Ich will im Folgenden versuchen, die Folgen der
eben gemachten Überlegungen auf die fünf geschilderten
Ansätze zu übertragen (wobei ich
letztmalig darauf hinweise, dass wir den Geisteszustand
eines Menschen des frühen 21. Jahrhunderts
zu simulieren versuchen).
Rekonstruieren
Dieser Ansatz ist eigentlich unmöglich. Nur
Menschen wie die Zeugen Jehovas versuchen
das noch, wenn sie Gottesnamen rekonstruieren
(und das wohl falsch); oder die Christen, die Zebaoth
anrufen, ohne zu wissen, was sie tun. Leider
hatten Teile des aktiven Heidentums im 20.
Jahrhundert Ansätze, sich in diese Richtung zu
entwickeln; erst das all-heidnische Konzil 2025
hat hier klare Beschlüsse fassen können.
Ignorieren
Dies ist möglich, aber nicht lustig. Man verzichte
auf eine Impfung, lässt sich die Zähne nicht
mehr machen und verfalle in eine Sprache, von
der man sicher sein kann, dass sie nicht ausdrücken
kann, was man ausdrücken will (dies
ist etwa so, als wollte man mit dem Wortschatz
des klassischen Latein bei einer PC-Hotline
anrufen). Und der Staat
der Staat baut einem
die Straßen, er kümmert sich um Schulen und
Krankenhäuser. Viele religiöse Gruppen, die
diesem Ignorieren-Ansatz folgen, müssen auch
den Staat ignorieren, um in sich selbst glaubhaft
zu bleiben. Da verzichtet man dann lieber auf
Krankenhausaufenthalte für Kinder als auf den
vermeintlichen Segen Gottes – und wenn die
Kinder dann sterben, dann war es Gottes Wille
(und nicht menschliche Dummheit).
Imitieren/Kopieren, Adaptieren
Dies scheitert oft an der nicht gegebenen zeitlichen
Lückenlosigkeit. Der Islam versucht, eine
geschlossene historische Kette zu produzieren,
vernichtet aber selbst „häretische“ Werke aus seiner
Frühzeit. Das Christentum pocht (im Katholizismus)
auf die Liste der Päpste oder insgesamt
auf die Priestersukzession, die aber an mehreren
Stellen in der Geschichte Lücken aufweist, durch
die man eine Kathedrale schieben könnte.
In Deutschland wäre das eventuell noch
machbar, wenn man heidnische Traditionen beleben
will; hier ist eine große Lücke durch die
Werke von Grimm & Konsorten überbrückt
worden. Aber im 21. Jahrhundert muss man
hier (wegen der Nationalsozialisten) aus vergifteten
Quellen trinken. Die Glut ist noch vorhanden,
aber das Werk ist mühsam.
Initiieren
Dies wäre Neustart ohne Bilder, ein Neustart
ohne Erinnerungen. Das ist machbar, aber nicht
gewollt.
Hurli Harard, der hurtige Held – 37
Schlussüberlegungen
Ich will versuchen, drei kurze Hinweise zu geben,
die ein Zeitgenosse aus dem frühen 21.
Jahrhundert auch geben müsste, wenn er über
den Mythos im Wandel der Zeiten nachdenkt.
Der Mythos gibt Antworten auf grundsätzliche,
elementare Fragen. Wir müssen ihm nur
zuhören.
Die Welt ist laut. Wir werden oft und viel
abgelenkt. Das Raunen der Runen aber braucht
das Schweigen der Welt.
Die Welt ist hell. Wir müssen uns ins Dunkel
begeben. Erst dann kommt vielleicht jemand aus
- ↑ Dieser Vortrag wurde zum Eldathing 2012 gehalten. Er war tatsächlich nicht an ein Manuskript gebunden, sondern entwickelte sich entlang weniger schriftlicher Vorlagen auf einem Flipchart mit drei verschiedenfarbigen Eddings. Manchmal braucht man nicht mehr für einen Vortrag … umso schwieriger war es dann, den gesprochenen und mit wenigen Stichworten "vermerkten" Text in einen Fließtext zu gießen. Mein Dank an Petra Bolte für Textkommentare und "Ordnung".