Delling
1. Vorrede
Meine Beschäftigung mit Loki habe ich dokumentiert. Damals schrieb ich:
Ich bin kein Fachmann in nordischer Mythologie, kann weder fünfundzwanzig Namen für „Gehöft“ in altisländisch oder altnorwegisch vorschlagen noch wichtige Sätze wie „Noch ein Met für den Magier an Tisch Zwo!“ in einer Zunge sprechen, die nordischen Göttern verständlich wäre. Sollte ich nach meinem Tode von Walküren geholt werden (...), so hoffe ich in der Halle der Helden auf Bedienung nach Handzeichen.[1]
Das gilt weiterhin. Der Schritt zu Delling ist jetzt für mich logisch und auch angekündigt.[2] Ich hatte schon immer große Schwierigkeiten damit, dass man alle Götter eines Pantheons gemeinsam anruft. Warum sollte man gleichzeitig einen Gott des Lebens und einen Gott des Todes anrufen oder eine Göttin für den falschen Anlass. Die Anrufung einer Gottheit erzeugt eine beidseitige Bindung, die man sich frühzeitig überlegen sollte. Da fühle ich mich in guter Nachbarschaft zu Gundarsson in seinem Artikel „Der alte Glaube“:
Warte zumindest solange, bis du einige Erfahrungen mit einzelnen Gottheiten hast oder einen intensiven spirituellen Ruf zu einer Gottheit verspürst, bevor du dich einer speziellen Schutzgottheit widmest – viele durchaus Erfahrene tun dies niemals![3]
Mein Weg zu Delling war – wie jede tief gehende Suche nach einer Gottheit – die Suche nach mir selbst, die Suche nach meinen Möglichkeiten und Wünschen und die Suche nach dem Verstehen von etwas, was eigentlich nicht zu verstehen ist: Das Göttliche. Diese Suche ist lebenslang nie abgeschlossen. Um es etwas salopp zu formulieren: Der Weg ist das Ziel.
2. Zur Rekonstruktion
Gundarsson schlägt eine Reihe von Übungen vor, um sich einer Gottheit zu nähern.[4] Dies sind (verkürzt):
1. Die Erstellung einer Liste aller Eigenheiten der Gottheit
2. Die Ausarbeitung der Liste durch Details, die nicht durch Quellen belegt sind
3. Wie manifestiert sich die Gottheit in den Naturgewalten?
4. Welche Aspekte der Gottheit kann man in der menschlichen Gesellschaft erkennen?
5. Welche Eigenschaften der Gottheit spiegeln sich im eigenen Wesen wider?
und
6. Welche Umgebung passt bei einer Anrufung zu der Gottheit?
Diesem Vorschlag will ich folgen, auch wenn es ein wenig nach einem Ratschlag meines alten Professors zu geraten drohte: „Fehlschläge sind nicht schlimm, wenn man sie vernünftig dokumentiert und daraus lernt.“ Mein Weg zu Delling war kein Fehlschlag – aber überraschend.
3. Die Erstellung einer Liste aller Eigenheiten der Gottheit
Bis jetzt haben wir nur einen Namen – Delling. Die Frage ist jetzt, inwieweit wir diesen Namen mit Informationen füllen können.
3.1. Die Edda
Beginnen wir mit einem Blick in die Quelle aller Quellen für diese Fragen: Die „Edda“. Es gibt nicht viele Stellen zu Delling in der „Edda“. Das ist ein Schicksal, dass er mit einigen anderen Gottheiten teilt, die trotzdem bekannter und – ich sage es ungern – beliebter sind. Doch die Stellen, in denen Delling erwähnt wird, sind aussagekräftig genug.
3.1.1. „Vafthrudnismal“
Odin befragt Wafthrudnir. Erst fragt er nach der Schöpfung von Erde und Himmel, dann fragt er nach Sonne und Mond. Schon seine dritte Frage beschäftigt sich mit Delling. Bei Genzmer heißt die Stelle:
Odin:
„Sage mir zum dritten, wenn man bedacht dich nennt
Und du, Wafthrudnir, es weißt:
Woher kam der Tag, der über die Täler geht,
und die Nacht mit dem Neumond?“
Wafthrudnir:
„Delling heißt er, von diesem stammt der Tag,
doch Nör hat die Nacht gezeugt;
Vollmond und Neumond, den Völkern zum Zeitmaß,
schufen gütige Götter einst.“[5]
Erst danach fragt Odin nach den Jahreszeiten und dem Ursprung der Asen und Thursen.
Jordan übersetzt diese Stelle ein wenig anders:
Dellinger gab
Dem Tage Dasein,
Nörri der Nacht:
Dem Neige- und dem Neumond
Gütige Götter
Zur Zählung der Zeiten.[6]
Jordan kommentiert wenig hilfreich zu Delling:
Dellingr = der Dämmerer.[7]
Bei Simrock lautet diese Stelle:
Dellingr heißt des Tages Vater,
Die Nacht ist von Nörwi gezeugt.
Des Mondes Phasen schufen milde Götter,
Die Zeiten des Jahrs zu bezeichnen.[8]
Von Wolzogen übersetzt:
Vom Delling stammt der strahlende Tag,
doch die Nacht war dem Narwe geboren (…).[9]
Die Aussage bleibt dieselbe.
Fazit: Delling ist der Vater des Tages. In diesem Fragespiel taucht er an relativ prominenter Stelle (in der dritten Frage) auf. Kommentare wie „Dämmerer“ sind für mich nicht nachvollziehbar.
3.1.2. „Die Zaubersprüche“
In den „Zaubersprüchen“ heißt es bei Häny:
Den weiß ich fünfzehntens:
Was Thiodrörir raunte
Vor Dellings Toren –
Kraft raunte er den Asen zu
und Glück den Alben
Dem Odin Verstand.[10]
Ähnlich übersetzt Genzmer die Szene „vor Dellings Toren“. Dort ließ Thjodrörir ein Lied ertönen und
er sang Kraft den Asen,
den Alben Gewinn,
Weisheit Walvater.[11]
Zu Thiodrörir erklärt der Übersetzer Häny:
Ein Zwerg; der Name bedeutet „Volk-Aufreger“[12]
Zu Delling heißt es bei ihm wenig erklärend:
der dritte Gemahl der Nacht, mit der er den Tag gezeugt hat. Der Name assoziiert sich mit „Tagesaufgang“.[13]
Fazit: Es gibt einen Ort vor Dellings Toren. Ob damit wirklich der Morgen („Tagesaufgang“) gemeint ist, geht für mich aus der Stelle nicht hervor.
3.1.3. „Die Heidreksrätsel“
Wir wissen, dass die Übersetzung „Lauch“ für „laukar“ sehr strittig ist.[14] Aber wie ist folgende Frage aus dem „Heidreksrätsel“ zu verstehen? Nach Genzmer heißt es da:
Gestumblindi:
„Deute mir das Wunder,
das ich draußen sah
vor Dellings Tor!
Sein Haupt ist
zur Hel gewandt,
doch die Sohlen zum Sonnenschein.
König Heidrek,
kannst du es raten?“
Heidrek:
„Gut ist dein Rätsel,
Gestumblindi,
gleich ist’s erraten:
das ist der Lauch: sein Kopf
steckt in der Erde, seine Blätter
ragen in die Luft.“[15]
Fazit: Wenn wir Haupt und Sohlen dem erfragten Lauch zuordnen, bleibt wieder nur der Hinweis „vor Dellings Tor“, doch dieses Mal mit dem Hinweis „draußen“. Also ist eine zeitliche Bestimmung zugunsten einer örtlichen Bestimmung abzulegen.
3.1.4. „Gylfaginning“
Häny übersetzt:
Nörfi oder Narti hieß ein Riese (...). Er hatte eine Tochter namens Nott („Nacht“), sie war schwarz und dunkel, wie es in ihrer Natur lag. Sie wurde einem Mann namens Naglfari vermählt, und der Sohn aus dieser Ehe hieß Aud. Danach wurde sie einem Mann namens Annar vermählt, und die Tochter aus dieser Ehe hieß Jörd. Zuletzt bekam sie der Delling; er stammte aus dem Asengeschlecht, und der Sohn aus dieser Ehe hieß Dag („Tag“); er war licht und schön, das hatte er von seinem Vater.[16]
Simrock übersetzt die wichtigen Sätze folgendermaßen:
Ihr letzter Gemahl war Dellingr, der vom Asengeschlecht war. Ihr Sohn war schön und licht nach seiner väterlichen Herkunft.[17]
Das ist die einzige Stelle über Delling, die sich in der „Edda“-Nacherzählung von Bringsvaerd findet (ohne Delling zu nennen). Hier heißt es:
Sie hieß Nott, und sie hatte einen Liebhaber unter den Asen, der mit ihr einen Sohn namens Dag zeugte, und der war ausnehmend hell.[18]
Herrmann verwendet diese Stelle in der „Nordischen Mythologie“, wenn auch ohne Quellenangabe:
Nor, Nörfi oder Narfi hieß ein Riese (...). Seine Tochter, die schwarze, dunkle Nott (Nacht) war in erster Ehe mit Naglfari vermählt, in dritter Ehe mit Delling (oder Dögling) aus dem Asen-Geschlechte; beider Sohn war Dag (Tag); der war licht und glänzend wie sein Vater. (...) Der freundliche Delling ist Vater des Dag (...).[19]
Die Familienzusammenhänge Dellings dürften damit ein wenig klarer sein. Der Riese Nörfi/Narti ist Vater von Nott. Nott hatte erst den Sohn Aud mit Naglfari, dann Jörd mit Annar und schließlich Dag mit Delling.
Herrmann setzt den ersten Gatten Naglfari mit dem Schiff Naglfar in Verbindung. Ohne in Details abgleiten zu wollen, ist Herrmanns Deutung die von Naglfari als Sternbild:
Das langsame stetige Vorrücken des Himmels vergleicht sich der ruhigen, unaufhaltsamen Fahrt eines Schiffes, und so konnte man den Sternenhimmel wohl als Schiff ansehen und Naglfari zum Gatten der schwarzen Nacht machen.[20]
Eine Aud ist uns bekannt aus dem „Hyndlalied“. Hier werden ihre weiblichen Vorfahren genannt, nicht ihr Vater. Aber ihr Sohn ist Harald Kampfzahn.[21]
Über Annar ist nichts bekannt, bei Simek heißt es daher über ihn:
Warum Snorri hier einen sonst unbelegten Mann für die Nott erfindet, und ob die Verwandtschaft von Jörd und Nott erst durch ihn konstruiert wurde, ist unbekannt.[22]
Jörd wiederum ist bekannt. Unter ihren Namen Fjörgyn, Hlodyn oder Jörd ist sie mit Odin als Mann die Mutter von Meili und Thor.
Damit ist Delling eine Art angeheirateter Großonkel von Thor (sein Schwiegervater Nörfi ist der Urgroßvater von Thor).
Ich will nicht sagen, dass Delling eng mit Thor verwandt wäre ... aber eine familiäre Bindung gibt es zwischen den beiden. Man hat sich also wohl mal auf Familienfeiern gesehen ...
Fazit: Delling ist eindeutig männlich („Gemahl“), licht und schön. Mit Nott („Nacht“) wird er Vater von Dag („Tag“). Delling stammt aus dem Geschlecht der Asen, er ist unter anderem mit Thor verwandt.
3.1.5. „Fiölsvinnsmal“
Bei Simrock lautet die Stelle:
Windkaldr
„Sage mir, Fiölswidr, was ich dich fragen will
Und zu wissen wünsche:
Wer hat gebildet, was vor der Brüstung ist,
Unter den Asensöhnen?“
Fiölswidr
„Uni und Iri, Bari und Ori,
Warr und Wegdrasil,
Dorri und Uri, Dellingr und Atwardr,
Lidskialfr, Loki.“[23]
Bei von Wolzogen lautet diese Stelle wenig verständlich:
Vielgewandt
„Holz und Eisen, Hart und Feucht,
Flut und Flamme,
Delling, Loge, List und Schreck,
Wächter und Wegroß.“[24]
Hierzu schreibt Neckel in der Anmerkung:
Dellingr „der Glänzende“, ein Ase, erzeugte mit der Nacht den Tag („vor Dellings Schwelle“: bei Tagesanbruch). – In Nr. 14 [„Fiölsvinnsmal“, Anm. Ritter] ein Zwerg.“[25]
Die Deutung von Genzmer und Neckel, das „vor Dellings Tor“ „vor Tagesanbruch“[26] bedeutet, ist fast zu einfach. Im „Mythologischen Glossar“ Genzmers heißt es zu Delling:
Der Morgentau, der zusammen mit der Nacht den Tag erzeugt.[27]
Stange schreibt zu Delling:
Der Morgentau, aus dem die Nacht den Tag erschafft.[28]
Eine Ableitung Dellings von „(Morgen-)Tau“ erscheint mir aber als unwahrscheinlich.
Fazit: Aus dem Text ist der „Asensohn“ herauszulesen, nicht der Zwerg. Der Rest der Anspielung bleibt (gerade auch wegen Loki) unklar.
3.1.6. Zusammenfassung der Fakten aus der „Edda“
Delling ist der Vater des Tages. Er ist männlich, licht und schön. Er stammt aus dem Geschlecht der Asen und ist kein Zwerg. Mit Nott zeugt er Dag. Thor ist sein Verwandter.
Er wird an relativ prominenter Stelle erwähnt.
Es gibt einen Ort vor Dellings Toren. Wahrscheinlich wird kein Zeitpunkt („Tagesaufgang“) bezeichnet, sondern ein Ort.
Die Bindung an den Tag ist klar. Interessant ist, dass man Delling in Zusammenhang mit Übergängen bringt („Tagesaufgang“ etc.), denkbar wäre auch eine Bindung an Übergänge wie „Erwachen“/„Aufwachen“. Ebenso interessant ist, dass auch immer wieder Zusammenhänge zur Sonne bzw. Gestirnen allgemein bei ihm oder den Gottheiten um ihn herum auftauchen.
In Lurkers „Lexikon der Götter und Dämonen“ heißt es:
Delling (Dellingr), bei den Germanen der „Morgenstern“, er ist Gemahl der Nott (Nacht), mit der er den Dag (Tag) zeugt.[29]
Auch wieder ein Übergang, wieder ein Gang aus der Dunkelheit in das Licht.
3.2. Runen
Ich bin bei Runen immer sehr vorsichtig, weil sich mir die Frage stellt, ob eine Gottheit nicht jede Sprache spricht. Das Erlernen des altfriesischen, um Delling zu verehren, erscheint mir als ausgesprochen enervierend. Meine folgenden Äußerungen zu Runen sind aus jener kritischen Distanz zu verstehen.
Schütte schreibt in „Dänisches Heidentum“ zu Delling und seinem Sohn Dag:
Dag, „der Tag“, findet sich unter den germ. Runennamen, ist also Gegenstand magischer Beschwörungen gewesen. Wir begegnen ihm in der Edda als Sohn des Delling (...). So ist wahrscheinlich Dag der Delling „Nachkomme von *Dall, *Dagl“. Der mutmaßliche Vater *Dall, *Dagl wäre das „Täglein“, „Tagesgrauen“. Er ist keine rein erschlossene Figur: begegnet er uns doch in der wohlbekannten eddischen Mythologie mit erweitertem Namen als Heim-dall, Gott des Tagesgrauens. Die hier erwähnten Deutungen führen uns bereits in das Gebiet ausgesprochen personifizierender Göttervorstellungen. Aber hinter ihnen entnehmen wir die reine Idee von Lichterscheinungen: Dall erzeugt Dag, das Tagesgrauen erzeugt den Tag.[30]
Auch McKinnell nennt mehrmals Runensteine mit Verweisen auf Dag bzw. die Rune „daaz“[31]. Runeninschriften zu Delling selbst sind nicht-existent. „Runes, Magic and Religion“ listet keinen einzigen Fund zu Delling auf.
Immerhin gibt es einige Hinweise auf Schlaf. So findet sich ein Runenstab aus Bergen, ca. 1380-1390. Auf ihm heißt es übersetzt:
May you never (be able to) sit (still), / may you never sleep.[32]
also
Mögest du nie still sitzen können und mögest du niemals schlafen.
Auf einem Heilungsstab aus der Zeit um 1300 finden sich die Worte (übersetzt):
They // must never sleep sweet nor wake warm before you receive a cure for this (...).[33]
Also:
Sie dürfen niemals süß schlafen oder warm aufwachen, ehe du eine Heilung hierfür finden.
Fazit: Der Name seines Sohns wurde für magische Beschwörungen genutzt. Die Ableitung über reine Lichterscheinungen scheint mir zu kurz zu greifen. Klar ist der Zusammenhang der Namen mit Tag-Licht.
3.3. Gesamtzusammenfassung
Delling ist der Vater des Tages. Er ist männlich, licht und schön. Er stammt aus dem Geschlecht der Asen und ist kein Zwerg. Mit Nott zeugt er Dag. Thor ist sein Verwandter.
Er wird an relativ prominenter Stelle in der „Edda“ erwähnt.
Es gibt einen Ort vor Dellings Toren.
Er wird in Zusammenhang mit Übergängen gebracht, denkbar wäre auch eine Bindung an Übergänge wie „Erwachen“/„Aufwachen“. Ebenso interessant ist, dass auch immer wieder Zusammenhänge zur Sonne bzw. Gestirnen allgemein bei ihm oder den Gottheiten um ihn herum auftauchen.
Zumindest der Name seines Sohns wurde für magische Beschwörungen genutzt.
4. Die Ausarbeitung der Liste durch Details, die nicht durch Quellen belegt sind
Man sollte Simeks Formulierung vom
lebendigen Polytheismus des germanischen Altertums[34]
im Gedächtnis behalten, wenn man sich weiteren Quellen zuwendet.
Die Abwesenheit des Namens Delling muss nicht bedeuten, dass er nicht in anderen Zusammenhängen erwähnt, wenn auch nicht benannt wird.[35] Interessant sind auch Auslassungen, wie im „Alvissmal“. Hier geht es im Rätselspiel um viele Begriffe – Erde, Himmel, Mond, Sonne, Wolken, Wind, Windstille, See, Feuer, Wald, Nacht, Gerste, Bier – kein Tag, aber die Nacht wird erfragt. Heißt das, dass Delling so bekannt war, dass die Frage nach ihm überflüssig war?
Im „Sigrdrifomal“ heißt es:
Heil dir Tag, Heil euch Tagessöhnen,
Heil dir Nacht und nährende Erde:
Mit unzornigen Augen schaut auf uns
Und gebt uns Sitzenden Sieg.[36]
Da Delling der Vater des Tags ist, kann hier eine ähnliche Anrufung a la Tagesvater vermutet werden. Mit wenig Mühe kann man auch hier aus dem Thema „Vater des Tages“ eine Verbindung zum Schlaf leiten. Delling als „Dämmerer“ ist auch der, der das Aufwachen begleitet.
Und auch einen Sonnen-/Morgenmythos könnte man vermuten, der sich an Delling festmacht.
Wir könnten Delling auch gleich benutzen, um eine lästige Stelle im Mythos zu schließen. Mir war immer unklar, wie und wann Odin seinen Ring von Baldur zurück erhielt. Im „Skirnisför“ heißt es:
Den Ring verlang ich nicht, der in der Lohe lag / Mit Odins jungem Erben.[37]
Mit einem Gott, der mit „Übergang“ assoziierbar ist, hätten wir hier jemanden, der für diese Aufgabe prädestiniert wäre.
5. Wie manifestiert sich die Gottheit in den Naturgewalten?
Um Kurt Oertel zu zitieren:
Im Asatru ist man sich sehr wohl dessen bewusst, dass man nicht in einer ungebrochenen Kontinuitätsfolge steht, und die Notwendigkeit einer Reinterpretation wird im Heidentum allenthalben hervorgehoben.[38]
Drei Aspekte würde ich benennen wollen, wobei ich den Begriff „Naturgewalten“ mehr in Richtung „Naturereignis“ lesen möchte. Nicht jede Gottheit manifestiert sich in Blitz, Donner, Schneesturm oder Erdbeben.
Für Delling bleiben drei Bereiche. Erstens der Sonnenaufgang, die Überwindung der Nacht. Hier wäre ich auch bereit, die Geburt und die Priesterweihe als Neuanfang im Licht abzuleiten.
Der zweite Bereich ist die Rolle des Lotsen oder Boten bei Tag und bei Nacht. Die Assoziation mit Sternenhimmel könnte verstanden werden in Bezug auf Leitsterne, das Morgenlicht als Hoffnung, aber auch als Nähe zum Ziel, die immer wieder Hoffnung gibt.
Der Schlaf ist kein Naturereignis, aber eine Lebenswirklichkeit. Delling als Traumbegleiter, der das Erwachen sichert, besonders bei magischen Reisen, erscheint mir als eine Möglichkeit, seine Rolle zu rekonstruieren.
6. Welche Aspekte der Gottheit kann man in der menschlichen Gesellschaft erkennen?
Hier geht es wohl eher um die Frage, welche Aspekte ich vermisse, denn Delling scheint kein Gott, denn man auf den ersten Blick überall findet.
Die Überwindung der Nacht ist nur noch in Heidenkreisen, bei Pfadfindern und im Live-Rollenspiel von Bedeutung. Das künstliche Licht, die Umstellung unserer biologischen Uhr durch die Sommerzeit und die Abgeschirmtheit unserer Wohnungen vom Jahreslauf machen es uns unmöglich, den Sonnenaufgang jeden Tag überhaupt nur zu erkennen, von feiern darf keine Rede sein.
Selbiges gilt auch für die Leitsterne, die dank nächtlicher Straßenbeleuchtung und Lichtsmog kaum noch zu erkennen sind. Man muss schon hinaus gehen, fort von Stadt und Straße, um den nahenden Morgen und die gleißenden Sterne wertschätzen zu können.
Der Traum und sein Begleiter bleiben. Hier bin ich zwar auch als Stadtmensch in der Lage, eine der mit Delling zu verknüpfenden Handlungen wahrzunehmen. Aber komischerweise ist der Traum in seiner metaphysischen Macht für den normalen Menschen tabuisiert. Wer spricht über seine Träume? Wer interpretiert Träume noch als Rätsel oder Weissagung – und spricht dann auch darüber?
7. Welche Eigenschaften der Gottheit spiegeln sich im eigenen Wesen wider?
Endlich mal eine einfache Frage. Ich bin Sozialarbeiter, arbeite mit benachteiligten Jugendlichen in einer Art „Reifebegleitung“ – und gerate damit ab und an an Orte, an die ich eigentlich überhaupt nicht will.
Ich habe Menschen bei Übergängen begleitet – meistens beim Erwachsenwerden, aber auch das ist Teil meiner Arbeitsplatzbeschreibung. Dazu kommen jene Dinge, die ich freiwillig mache – das Heidentum halt. Auch hier würde ich das, was ich tue, eher als „Lotsendienste“ beschreiben. Von daher bin ich mit Delling ganz zufrieden – und, wenn ich das sagen darf, er auch mit mir. Welcher fast vergessene Gott kann schon damit prahlen, dass er einen Anhänger hat, der ihn der Halb-Vergessenheit entreißt?
8. Welche Umgebung passt bei einer Anrufung zu der Gottheit?
Wie schreibt der weise Meldric so schön:
Das Ritual ist sich wiederholende Handlung und damit Sicherheit. Von ihrer Intention unterscheiden sich die Rituale des Asatru nicht so sehr von denen anderer Religionen. (...) Der Schwerpunkt liegt dabei weniger auf Rekonstruktionen historischer Rituale, als vielmehr auf dem Funktionieren eines Prinzips.
Es wäre ein Missverständnis zu glauben, dass nur solche Handlungen „echt“ sind, die sich auf historische Überlieferungen gründen lassen und damit „authentisch“ sind.[39]
Das „Funktionieren eines Prinzips“ ist wichtig. Delling bietet sich als Führer beim Übergang an – am frühen Morgen, beim Auftauchen der ersten Sterne am Himmel. Aber auch zu einer Geburt oder zu einer Priesterweihe, vor einer magischen Reise oder vor einer mystischen Sinnsuche kann ich mir Delling gut als Begleiter vorstellen. Warum auch nicht? Delling, der Dämmerer, ist doch gut dafür zu haben, wenn man will, dass einem etwas dämmert.Meldric, S. 11
Und wer eine Mitteilung loswerden will, der ist mit Delling als Boten gut bedient. Wer Odins Ring holen konnte, der kann auch eine andere Nachricht an gefährliche Orte überbringen. Mutig und listig scheint er ja zu sein, der Vater des Tages.
9. Schlussbemerkung
Wer sich bis jetzt noch nicht sicher ist, ob ich das alles ernst gemeint habe – ich möchte diese Frage nicht beantworten. Alleine meine Weigerung, mich einen Asatru zu nennen plus meine Beschäftigung mit Delling brachte mir dumme Kommentare und die Ausladung von einem Asatru-Stammtisch ein.
Nun gut, ich kann den Mut locker aufbringen, mich mit weniger öffentlichkeits-wirksamen Asen wie zum Beispiel Delling zu beschäftigen. „Der Weg ist das Ziel“, wie ich eingangs bemerkte. Und ich kann mir wenig bessere Wegbegleiter als Delling vorstellen.
Die weiteren Schritte sind klar. Mein Neun-Punkte-Plan zum Einsetzen von Delling als wichtige Gottheit im Rahmen von Asatru sieht folgendermaßen aus:
I. Aufnahme von Delling in die Liste der germanischen Götter – seine Aufnahme in die Liste bei Simek ist fast schon zwingend.[40]
II. Umbenennung von Dillingen in Dellingen und von Dillenburg in Dellenburg.
III. Umbenennung der Runensteine von Jelling in Runensteine für Delling.
IV. Verehrung von John Dillinger an entsprechenden Feiertagen.
V. Umbenennung von Dill in Dell. Heiligung der heiligen Kartoffeln mit Dellsoße.
VI. Produktion und Verkauf von Delling-Merchandising auf allen „Eldaring“-Treffen. Besonders gut fände ich ein T-Shirt mit folgendem, schon verwendetem Zitat:
Vor Dellings Toren –
Kraft raunte er den Asen zu
und Glück den Alben
Dem Odin Verstand.[41]
VII. Beginn einer Buchproduktion. „Delling für Krieger“, „Delling für Mütter“ und „Delling als erster Kristallisationspunkt eines finnisch-lettischen Kriegerkultes“. Ich wäre auch bereit, den Titel „Delling in den Niederlanden“ an Gardenstone abzugeben. Dazu passt die Produktion eines „Delling-Tarots“. Das könnte man auch an Satanisten verkaufen, wenn man den Delling-Morgenstern-Satan-Vergleich überstrapaziert.
VIII. Einrichtung von Schulspeisungen mit Butterbroten für heidnische Kindern. Da gibt es auch gleich einen Kultgegenstand zum Frühstück, die Butter, denn bei Schütte heißt es im „Dänischen Heidentum“:
Norwegische Bauern im Lande der 24stündigen Nacht streichen Butter dort auf, wo die ersten Sonnenstrahlen zur Frühjahrszeit in ihre Wohnstuben dringen.[42]
Wir sehen hier eine Gleichstellung gelbe Butter = goldene Scheibe = Sonne.[43] Und schon sind wir wieder bei Delling. Jedes Mal wenn Mütter ihren Kindern morgens ein Schulbrot schmieren, denken sie eigentlich an Delling und hoffen, dass er die Kinder schützt. Delling ist anwesend im Ritus des Schulbutterbrotes, der sich über Jahrhunderte in unserer Kultur wiederspiegelt ... wir sollten nur bewusst an seine Bedeutung denken.
IX. Ohne Lied geht es nicht. Als Delling-Lied empfehle ich eine Bearbeitung zur Melodie des Andreas-Hofer-Liedes „Zu Manta in Banden“. Dieses Lied der Arbeiterbewegung wurde 1907 verfasst und erstmals 1910 abgedruckt.
Dem Morgenrot entgegen,
ihr Kampfgenossen all!
Bald siegt ihr allerwegen,
bald weicht der Feinde Wall!
den Reichtum zu vermehren,
der uns’re Armut schafft.
(...)
Verwendete Literatur
Bringsvaerd, Tor Age „Die wilden Götter“. Aus dem Norwegischen von Tanaquil und Hans Magnus Enzensberger. München/Zürich (Piper), 2004
Genzmer, Felix „Die Edda.“ Übertragen von Felix Genzmer. Jena, 1933 (hier zitiert als Genzmer [a])
Genzmer, Felix „Die Edda. Götterdichtung, Spruchweisheit und Heldengesänge der Germanen“ (Enthält ohne Nennung Vorwort und Anhang von Kurt Schier sowie einige einführende Texte von Andreas Heusler), Kreuzlingen/München, 2006 (hier zitiert als Genzmer [b])
Gundarsson, KveldulfR Hagan „Der alte Glaube“ (1996) in „Der Eldaring e.V.“ (Hrsg.) „Herdfeuer 2“ (2003)
Häny, Arthur „Die Edda – Götter- und Heldenlieder der Germanen“. Aus dem Altnordischen übertragen, mit Anmerkungen und einem Nachwort versehen von Arthur Häny, Zürich (Manesse Verlag), 4. Auflage 1992 (hier zitiert als Häny [a])
Ders. „Snorri Sturluson Prosa-Edda“. Aus den Altisländischen übertragen, mit Anmerkungen und einem Nachwort versehen von Arthur Häny, Zürich (Manesse Verlag), 1991 [hier zitiert als Häny (b)]
Herrmann, Paul „Nordische Mythologie“, Berlin, 1995³
Jordan, Wilhelm „Die Edda“, Frankfurt/Main, 1910³
Lurker, Manfred „Lexikon der Götter und Dämonen“, Stuttgart, 1989²
McKinnell, John und Rudolf Simek mit Klaus Düwel „Runes, Magic and Religion. A Sourcebook“, Wien, 2004
Meldric „Das Ritual“ in „Der Eldaring e.V.“ (Hrsg), „Herdfeuer 6“ (2004)
Neckel, Prof. Dr. G. (Hrsg.): „Die Edda“. Übertragen von Karl Simrock, herausgegeben von Prof. Dr. G. Neckel, Berlin (Deutsche Buch-Gemeinschaft GmbH), 1927 (hier zitiert als Simrock [a])
Oertel, Kurt „Zur Wahrnehmung heutigen germanischen Heidentums“ in „Der Eldaring e.V.“ (Hrsg.) „Herdfeuer 17“ (2007)
Ritter, Hermann „Loki, Loki, shining bright“ in “Der Eldaring e.V.” (Hrsg.) „Herdfeuer 7” (2005) (zitiert als Ritter [a])
Ritter, Hermann „Von außen gestellte Fragen an die »Edda« in Junker, Daniel und Holger Kliemannel „Heidnisches Jahrbuch 2008“ (zitiert als Ritter [b])
Schütte, Gudmund „Dänisches Heidentum“, Hamburg, 2006 (Reprint der Ausgabe von 1923)
Simek, Rudolf „Der Glaube der Germanen“, Kevelaer, 2005 (zitiert als Simek [a])
Ders. „Lexikon der germanischen Mythologie“, Stuttgart, 1995² (zitiert als Simek [b])
Simrock (a) siehe Neckel, Prof. Dr. G. (Hrsg.)
Simrock (b) siehe Stange, Dr. Manfred (Hrsg.)
Stange, Dr. Manfred (Hrsg.): Simrock, Karl „Die Edda. Götterlieder, Heldenlieder und Spruchweisheiten der Germanen“, Wiesbaden (Marix Verlag), 2004 (hier zitiert als Simrock [b])
Von Wolzogen, Hans „Die Edda.Götterlieder und Heldenlieder“, Leizpig, o,J.
- ↑ Ritter (a), passim
- ↑ Vgl. Ritter (b), S. 173
- ↑ Gundarsson, S. 13
- ↑ Vgl. Gundarsson, S. 15
- ↑ Genzmer (a), S. 87 f.; Häny spricht vom „Vater des Tags“ (Häny [a], S. 80)
- ↑ Jordan, S. 54
- ↑ Jordan, S. 412
- ↑ Simrock (a), S. 188
- ↑ Von Wolzogen, S. 133
- ↑ Häny (a), S. 70
- ↑ Genzmer (b), S. 174
- ↑ Häny (a), S. 551
- ↑ Häny (a), S. 70, ebenso Anmerkungen Häny (Häny [a], S. 551); dito in Simrock (b), S. 67
- ↑ Vgl. Ritter (b), S. 163 ff., Simek (a), S. 136 und McKinnell, S. 97 ff.
- ↑ Genzmer (b), S. 157 f.
- ↑ Häny (b), S. 28 f.
- ↑ Simrock (b), S. 268
- ↑ Bringsvaerd, S. 12
- ↑ Herrmann, S. 112 f.
- ↑ Herrmann, S. 114
- ↑ Genzmer (b), S. 120
- ↑ Simek (b), S. 22 f.
- ↑ Simrock (a), S. 279; dito Simrock (b), S. 117 f.
- ↑ Von Wolzogen, S. 42
- ↑ Neckel in Simrock (a), S. 439
- ↑ Genzmer, S. 22 und S. 223)
- ↑ Genzmer (b), S. 378
- ↑ Stange, S. 397
- ↑ Lurker, S. 104
- ↑ Schütte, S. 73
- ↑ Runen nach McKinnel, S. 22 und S. 38 f.
- ↑ McKinnell et al., S. 132
- ↑ Ebenda, S. 142
- ↑ Simek (a), S. 12
- ↑ Vgl. Häny (a), S. 197 ff.
- ↑ Simrock (b), S. 193
- ↑ Simrock (b), S. 106
- ↑ Oertel, S. 7
- ↑ Meldric, S. 11
- ↑ Vgl. Simek (a), S. 71 f.
- ↑ Häny (a), S. 70
- ↑ Schütte, S. 72
- ↑ nach Schütte, S. 73