Stille Nacht im Weltraum
Die Luftversorgung werde ich als erstes aufgeben. Alle anderen Dinge machen mir keine Angst. Ich habe noch genug Nahrung für vierzehn Tage, und danach kann ich immer noch auf Konzentrate umsteigen, wenn mir der Sinn danach steht. Wasser ist dank der modernen Aufbereitungstechnik kein Problem. Wenn man nicht zu sehr darüber nachdenkt, dass man den eigenen Schweiß und das eigene Urin recycelt, kann man sehr lange überleben. Bis da-hin gibt es noch Fruchtsaft, Milch, einige Flaschen mit gut gereiftem K‘rt‘ertel und sogar noch etwas Wein.
Aber was hilft das, wenn man vorher erstickt.
Ich habe mir diese Situation nicht ausgesucht. Ja – meine Mutter würde dieser Aussage nicht zustimmen. Immerhin hatte sie lange dagegen Stellung bezogen, dass ich mich freiwillig gemeldet hatte.
"Aber ich ziehe doch nicht in den Krieg, ich gehe zu den Explorern!"
Meiner Mutter war das egal. Sie glaubte bis zu ihrem Tode, dass ich in den Armen einer Spinnenkreatur von Winswudel XVI sterben würde, zerquetscht und mit Sekreten gefüllt, die mich für die arachnoiden Nachkommen schmackhaft machten. Wahrscheinlich wäre das auch schneller gegangen als der Tod durch Ersticken.
Viele Raumfahrer sagen, dass der Kältetod nicht schmerzhaft wäre. Ich habe von Fällen ge-hört, in denen Raumfahrer ihren Helm geöffnet haben, mitten im Vakuum, damit es schnell vorbei ist. Das Ersticken, das Würgen im Hals, das Gefühl der Enge in der Luftröhre, das schmerzhafte Ziehen in der Lunge, wenn man versucht, doch irgendwie an Sauerstoff zu kommen, obwohl man weiß, dass es sinnlos ist … das ist schlimm, weil man das Gehirn nicht betrügen kann. Wenn man weiß, dass es vorbei ist.
Ich schaue noch einmal auf die Zeitanzeige. 2409-12-23, 22:40 Uhr. Mit dem Versorgungs-schiff ist Anfang des nächsten Jahres zu rechnen. Mit dem Erstickungstod gegen morgen früh, gegen 3.00 Uhr. Da ist es nicht so einfach möglich, einen exakten Zeitpunkt anzugeben. Man kann das Ende hinauszögern, wenn man schläft oder sich mit Medikamenten in ein künstliches Koma versetzt. Aber selbst dann bleiben Tage, in denen ich keine Atemluft habe, ohne dass Hilfe zu erwarten wäre.
Was für ein mieser Moment in der Geschichte der Menschheit! Was haben wir an Schlach-ten gewonnen! Andromeda … am heimatlichen Sternenhimmel ein ferner Traum, für uns Gewissheit. Fern von der Heimat – ferner, als jemals zuvor ein Mitglied meiner Familie ge-wesen ist. Ach was, meines Dorfes, meiner Region. Weit draußen, alleine.
Erneut schaue ich auf die Zeitanzeige. Eigentlich ist es doch egal, wie ich die letzten Stunden verbringe. Ich habe eine Waffe, ich kann mich jederzeit erschießen oder hinausgehen und den Helm öffnen. Oder einfach das Schott aufschwingen lassen. Ein kurzer Moment … dann wäre alles vorbei.
Seufzend öffne ich die letzte Kiste von der Erde. Ich weiß nicht, worauf ich gehofft habe. Wein vielleicht oder besser noch Schnaps. Was ich finde, sind Kekse, vier rote Kerzen, eine Flasche Holundersaft und ein kleines, liebevoll in mit Misteln verziertes Papier gewickeltes Päckchen.
Ich muss nicht lange nachdenken, wer mir das geschickt hat – mein Bruder lebt daheim, mit Familie auf dem Land. Trotzdem hat er nicht vergessen, was "Familie" heißt. Egal, wo ich im Universum unterwegs war, pünktlich zu Heiligabend kam stets eine Lieferung mit Dingen, die man braucht, um so etwas wie Verbundenheit auszudrücken.
Ich will gar nicht darüber nachdenken, was er dafür bezahlt hat, dass mich seine Sendung erreicht. Wahrscheinlich ist das seine geheime Mutantenfähigkeit – Parapostzusteller. Egal, für ein Mutantenkorps reicht das nicht aus. Aber …
Ich gebe mir einen Ruck. Es ist sowieso egal. Ich schaue noch einmal auf die Zeitanzeige. 2409-12-23, 22:57 Uhr.
Dann hebe ich die Kerzen aus dem Päckchen, stelle sie im Viereck auf den Tisch und zünde sie nacheinander an. Sie flackern wohlig im schwindenden Sauerstoff. Dann hole ich ein sauberes Glas, gieße mir etwas Holundersaft ein und esse die ersten Plätzchen. Dabei schaue ich immer wieder auf die Uhr.
Das zweite Glas, weitere Kekse. Besonders die mit Vanille haben es mir angetan, sie erin-nern mich an gemeinsame Abende auf dem Wohnzimmerboden, vor dem Weihnachtsbaum. Das Geräusch der nur langsam anlaufenden Spielzeugeisenbahn, die ihre Bahnen immer wieder auf dem einen Gleis um den Sockel des Weihnachtsbaumes zog.
Sie hatte schwer zu ziehen, denn wir Brüder hatten unsere Geschenke auf den Wagen drapiert. Da saß mein Teddy hinter dem Tender, dahinter kamen zwei Wagen mit Schokolade und Keksen und weitere Waggons, die bis über den Rand mit kleinen Geschenken gefüllt waren.
Ich hole tief Luft, wohl vor Rührung. Dabei fällt mir auf, dass es schwerer geworden ist, richtig zu atmen. Soll ich die Kerzen ausmachen? Nein, das ist jetzt egal.
Mein Blick fällt wieder auf die Uhr. Kurz vor Mitternacht! Die letzten drei Minuten zähle ich mit der Uhr gemeinsam herunter. Als Heiligabend angebrochen ist, öffne ich mit vorsichti-gen Fingern das letzte Paket.
Kurz halte ich inne. Warum habe ich auf die Uhr geschaut? Ist es nicht völlig widersinnig, sich nach Dilatation, Entfernung von der Erde und noch dazu allein auf weiter Flur an einen Kalender zu halten, der völlig überholt ist?
Nein, es geht nicht um den Heiligabend oder einen bestimmten Termin. Der ist willkürlich. Es geht auch nicht um die Wintersonnenwende oder um Mithras oder um einen bärtigen Mann im roten Mantel. Es geht darum, dass man sich an das Licht erinnert. Sol. Sonne. Licht. Die Wiederkehr des Lichts.
Endlich habe ich die Schnur gelöst und kann das Päckchen öffnen. Es enthält ein Holobild der Familie meines Bruders und ein Buch. "Das Pferd und sein Junge". Ich habe es schon ein Dutzend Mal gelesen – und ich lese es immer wieder gerne. Aber jetzt werde ich es nicht bis zu Ende lesen können.
Manchmal ist das so. Schlagartig wird mir etwas klar: Es geht nicht um die Geschenke. Es geht nicht um den Termin. Es geht darum, dass man nie alleine ist, wenn man geliebt wird.
Nie alleine.
Ich stehe auf, ging zur Schleuse und drücke den Knopf.
Stille Nacht im Weltraum.