Reinkarnation

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Vorrede
Dieser Artikel geht auf einen Vortrag zum Ostara-Treffen 2024 zurück. Er konzentriert sich deshalb auch auf das in der damaligen Ankündigung versprochene Thema, und das lautete: "Haben Zwerge eine Seele? Wo ist Baldurs Seele gerade? Warum waren wir alle Harald Blauzahn (oder auch nicht?). Gibt es eine Reinkarnation im germanischen Heidentum?"
Ich bin mir nicht sicher, ob ich zu einer alle zufriedenstellenden Antwort kommen werde. Nein, eigentlich bin ich mir sicher, dass dem nicht so sein wird. Denn das Thema ist nicht nur voller esoterischer Fußfallen, sondern wir wandern auch durch christlichen Mythenmatsch und bewegen uns auf ausgesprochen ungesichertem heidnischen Boden. Und selbst die gerne bemühte Rekonstruktion von historischen Zusammenhängen muss bei diesem Thema scheitern, weil wir uns heutzutage begrifflich und von der Weltanschauung her so weit von der Zeit der Mythen unterscheiden, dass wir leider am Ende nicht sicher sein können, ob wir in Diskussionen über die Zeit der Mythen dasselbe wie die Menschen damals meinen, auch wenn wir dasselbe sagen. Obwohl: Das gilt auch für viele Diskussionen im Hier und Jetzt.

Zur Begrifflichkeit
1899 heißt es noch im etymologischen Wörterbuch:
"Seele (…) Der Ursprung des urgerm. Saiwalo (…) »Seele« ist dunkel (…)."[1]
2002, also etwa 100 Jahre später, steht im etymologischen Wörterbuch:
"Seele (…) Herkunft unklar."[2]
Als Arbeitsgrundlage ist das schon einmal sehr unfruchtbar. Wie steht es um die Wortbedeutung? Der Brockhaus von 1906 schreibt:
"Seele (…): Gesamtbezeichnung für alle Erscheinungen des Fühlens, Wollens und Denkens, sofern diese unabhängig von materiellen Erscheinungen betrachtet werden. Die Erkenntnis der S[eele] und der Gesetze ihres Lebens ist Aufgabe der Psychologie (…)."[3]
Genau hundert Jahre später schreibt das „Deutsche Wörterbuch“ wenig erhellend:
"Seele (…) unsterblicher Teil des Menschen. (….)"[4]
Wir bewegen uns also in der Deutung eines Begriffs, dessen sprachliche Herkunft dunkel und unklar ist. Dabei ist er doch ein zentraler Begriff unseres Seelenlebens – auch ein schönes Wort –, denn immerhin geht es dabei um unseren eigenen Anteil Unsterblichkeit, um (Zitat) die "Gesamtbezeichnung für alle Erscheinungen des Fühlens, Wollens und Denkens".
Herzlichen Dank für dieses einfach einzugrenzende Thema. Und natürlich hilft uns das alles nicht weiter, wenn wir die Seelen-Frage auf Zwerge usw. ausweiten wollen, denn dieses Thema wird in den vorliegenden Werken überhaupt nicht behandelt.

Christlicher Mythenmatsch
Beginnen wir mit dem Seelen-Begriff im Christentum. Auch wenn nicht jeder von uns – so wie ich – eine christliche Sozialisation hat, so ist unser sogenanntes Abendland trotzdem immer noch ein sogenanntes christliches Abendland. Unsere Mythen sind vom Christentum beeinflusst; alles andere wäre historisch Blödsinn, denn über tausend Jahre christlicher Kultur haben natürlich ihre Spuren hinterlassen.
Wie steht es denn im Christentum mit der Reinkarnation? Die Bibel selbst enthält das Wort Reinkarnation nicht, aber zumindest Jesus wird gefragt, ob er nicht Johannes der Täufer oder der Prophet Elias sei.[5] Johannes der Täufer wiederum galt ebenfalls als der wiedergekehrte Elias.[6] Also war der Glaube an eine Form von Reinkarnation zumindest im Ansatz vorhanden, wenn auch vielleicht nur für jüdische bzw. christliche Propheten.
Die Seele wiederum wird im Christentum im Alten und Neuen Testament mit der Erschaffung des Menschen in Verbindung gebracht. Im Neuen Testament heißt es:
"Der erste Mensch, Adam, ward zu einer lebendigen Seele."[7]
Dies wiederum bezieht sich auf Erschaffung des Menschen in der christlichen Mythologie des Alten Testaments:
"Da machte Gott der Herr den Menschen aus Erde vom Acker und blies ihm den Odem des Lebens in seine Nase."[8]
Gott gibt dem zukünftigen Menschen seinen Odem, damit wird die Erde belebt und zum beseelten Menschen. Einen klaren Nachklang findet man in der Simrock-Übersetzung der Edda. Dort heißt es in der Wöluspa:
"Besaßen nicht Atem / und Seele noch nicht,
Nicht Lebenswärme, / noch lichte Farbe.
Atem gab Odin, / Hönir gab Seele,
Leben gab Lodur und lichte Farbe."[9]

Inhaltliche Inner-Asatru Abgrenzung
Einige Fundstellen zur Seele in der Edda muten bei der Übersetzung eher so an, als ginge es um Minne denn um Religion oder Mythos. Ein Beispiel aus dem Loddfafnirs-Lied möge genügen:
"Das ist Seelentausch, sagt einer getreulich
Dem anderen alles, was er denkt.
Nichts ist übler als unstet sein:
Der ist kein Freund, der zu Gefallen spricht."[10]
Um eine weitere inhaltliche Klippe zu umschiffen, akzeptieren wir ein gewisses „Nachleben“ der Seele im verstorbenen Körper vor einer möglichen Wiedergeburt. Sonst ist die Nekromantie, also das Erheben von Toten, immer damit verbunden, dass woanders jemand ohnmächtig oder tot umfällt, weil seine Seele wieder in den Körper der letzten Reinkarnation zurückkehren muss. Wenn nämlich Untote seelenlos, also ohne Erinnerung wären, ergeben Verse wie der folgende aus den "Zaubersprüchen" keinen Sinn:
"Ein zwölftes kann ich, wo am Zweige hängt
Vom Strang erstickt ein Toter,
Wie ich ritze das Runenzeichen,
So kommt der Mann und spricht mit mir."[11]
Ich möchte anmerken, dass die Rückfrage zu dieser Fähigkeit bei angeblichen Runenmeistern bis jetzt noch nicht zu einer kompetenten Antwort oder einem ernsthaften Qualifikationsnachweis geführt hat. Wenn mich jemand fragt, so wäre meine Antwort, dass der Tod durch das Ersticken "am Zweige vom Strang" heute so selten geworden ist, dass diese Runenritzerei kaum noch gelehrt wird.
In ein ähnliches Problemfeld geraten wir, wenn wir auch nur zwei Sekunden über Erberinnerung á la Weisthor nachdenken. Karl Maria Wiligut – vielen bekannter als "Himmlers Rasputin" und Weisthor – konnte damit zwar Teile der SS beeindrucken, aber für jemanden, der vorher in der Psychiatrie war, bevor er der SS beitrat, sollte man keinen guten Leumund einlegen, wenn es um Fragen nach der Rückerinnerung an frühere Leben geht. Wer also glaubt, sein Ahnengedächtnis aktivieren und germanische Erberinnerungen bieten zu können, oder in der Lage ist, eine ungebrochene Tradition seit Atlantis samt eigener Reinkarnationen in dieser Pseudo-Geschichte vorzuweisen, gehört nicht in den Rahmen einer Erörterung zur Reinkarnation.

Der Umgang mit dem Thema Reinkarnation ist aber auch im modernen Asatru schwierig. Stellvertretend ein Beispiel. Gunivortus Goos alias GardenStone schreibt:
"Eine Rückkehr als physischer Mensch scheint (…) nicht vorgesehen. Allerdings kannten die späteren isländischen Wikinger eine Art Wiedergeburt."[12]
Keine echte Hilfe. Aber dafür unterscheidet auch er sauber zwischen Wiedergängern und Reinkarnierten.[13]

Volksglaube
Das Schöne am modernen Asatru ist ja das Eingeständnis, dass wir nicht versuchen, eine antike Religion eins zu eins umzusetzen, sondern sehr wohl in der Lage sind, moderne Erkenntnisse und Überlegungen in unseren Glauben einfließen zu lassen.
Aber wie ist denn um den Volksglauben der Moderne bestellt? Eine Allensbach-Untersuchung ergab 2021, dass 61 Prozent der Deutschen an eine Seele glauben. 52 Prozent glauben daran, dass "in der Natur alles eine Seele hat".[14] Das werten wir einmal als gängigen Volksglauben – wobei trotzdem erstaunlich ist, wie vorherrschend der Seelenglaube noch ist.
Die Ansicht von der beseelten Natur ist ein Fortklingen der Anschauung, dass wir mit allem verbunden in einem rhythmischen Gleichklang als verbundene Schöpfung gemeinsam im Taumel unseres Sonnensystems durch den Kosmos atmen. Nicht erst durch die Gaia-Hypothese (entstanden Mitte der 70er[15]) feiert diese Idee wieder fröhliche Urstände.
Aber es ist nicht verwunderlich, dass die Seele trotz christlicher Rückzugsgefechte auf dem Feld der Mission immer noch als Glaubensgrundlage präsent ist. Immerhin feiert die Seele in der populären Phantastik – wenn wir das Genre mal unscharf so nennen wollen – einen neuen Siegeszug. Erinnert sei als persönlicher Höhepunkt an den Film Das siebte Zeichen von 1988, in dem Jürgen Prochnow als wiedergekehrter Jesus die Handlung verbindet – nämlich eine Abfolge von Ereignissen, die das Entleeren der Halle der Seelen verhindern und damit die Apokalypse abwenden sollen. Oder die Flusswelt der Zeit von Philip Jose Farmer, verfilmt 2002, in der die Menschheit zum Bewährungsaufstieg auf einen fremden Planeten versetzt wird, wo sie so lange wiederbelebt (d. h. reinkarniert) wird, bis sie endlich Erkenntnis erreicht. Beides Themen, die etwas in uns ansprechen, sozusagen etwas in uns zum Klingen bringen.
Wer nicht zufrieden ist mit meinen Erwähnungen, weil ihm die genannten Titel nichts sagen, der sei an ein viel eingängigeres Beispiel erinnert – an Krieg der Sterne. Wir zitieren widerwillig kurz die Wikipedia:
"Das fiktionale Konzept der »Macht« und damit zusammenhängend Betrachtungen über Gut und Böse sind ebenfalls ein wesentliches Thema der Star Wars-Rezeption. Für sie wurde Lucas durch eine Diskussion inspiriert, die der US-Wissenschaftler Warren McCulloch mit dem Regisseur Roman Kroitor führte und in der es um die Reduktion des Biologischen auf das Mechanische ging. Darüber hinaus orientierte sich Lucas hinsichtlich des Jedi-Kults stark an Elementen der ostasiatischen Kultur, Philosophie und Spiritualität. Dazu gehören der Taoismus, der Buddhismus und der Konfuzianismus. Eine Parallele zum Buddhismus etwa besteht in der Art, wie Jedi sterben. Das Konzept ähnelt dem Bodhisattva des Mahayana-Buddhismus. Dabei bleibt man als Geist erhalten, um nachfolgende Generationen auszubilden, anders als beim vollständigen Verlöschen im Nirwana."[16]
Möge die Macht mit dir sein, damit du als aufgestiegener Meister weiterhin Weisheit bringen kannst. Wer Kontakt zu einem Jedi hat, der hat Kontakt zur Weisheit – oder man ist wieder bei dem Bild, dass man den Geist eines Toten beschwört, um ihm Fragen zu stellen, die ein Lebender nicht beantworten kann.

Seele
Wenn man sich nun der Frage nähert, was eine Seele eigentlich im Asatru-Kontext sein könnte, gerät man schnell auf weitere Abwege.
Haben nur Menschen eine Seele – oder auch Zwerge beziehungsweise Schwarzalben? Wenn ja, kann man dann als Zwerg reinkarnieren oder ist man vielleicht schon ein reinkarnierter Zwerg? Ist Baldurs Seele frei, während er auf das Ende der Welt wartet – oder ist sie in einem Limbo gefangen, weil er um seine Wiederkehr weiß und daher seine Seele nicht reinkarnieren lässt oder sich nicht reinkarnieren kann, um die Wartezeit zu überbrücken? Oder ist Baldur nicht ganz tot oder verlängert er die – vorhin schon angesprochene – mögliche Wartezeit der Seele beim Körper nach dem Tod länger und länger bis hin zum Ragnarök?
Überhaupt das Ende der Welten. Warum sollte ich mich reinkarnieren, wenn ich gerade glücklich beim vierten Bier und guter Musik in Folkwang sitze und in alle Ruhe auf Ragnarök warte? Oder gibt es vielleicht eine Aufstiegs-Reinkarnation – wenn ich nach diesem Leben nicht erfolgreich von Walküren abgeholt werde, dann kreuze ich die Reinkarnations-Option an, um im nächsten Leben einen erneuten Versuch zu wagen? Gilt das auch für Ertrunkene, die ja nun sofort abgeholt werden?
Und endet die Seele bei Ragnarök und stehen wir dann wieder alle an bei der Seelenausgabe für die nächste Welt, um wieder in das Reinkarnations-Rad einzusteigen? Schön wäre aber das Bild von den Nornen als Verwalterinnen der Seelenausgabe – dann wäre der Faden der Norne meine reinkarnierte Seele durch die Jahrhunderte, der immer wieder eingewoben wird in den Teppich der Welt, bis ich am Ende …

Seelenproblem
Winden wir uns nicht länger um das Problem herum. Die Seele ist mythisch und genauso müssen wir sie auch behandeln. Aber schnell kommen wir an die Grenzen unserer Fähigkeiten, wenn wir hier weiter definieren wollen.
Wann erhält der Mensch eine Seele? Bei der Zeugung? Bei der Geburt? Sicherlich können wir hier Abtreibungsgegner einladen, denen eine solche Seelen-Diskussion Wasser auf die Mühlen wäre. Und natürlich bringt uns das der Lösung der Frage, wer eigentlich die Seelen vergibt, keinen Schritt näher.
Die Frage nach der Zwergen-Seelen hatte ich schon angesprochen. Wenn wir nicht an eine Kuh glauben, welche die ersten Menschen erleckt hat, sind wir vielleicht bereit, an die Evolution zu glauben. Der Homo sapiens entsteht aus dem Homo erectus. Zwischen dieser – unserer – Gattung und den Neandertalern und den Denisova-Menschen gab es einen Genfluss – das Wort ist nicht von mir, sondern steht so in der Wikipedia.[17] Wann begann die Beseelung und mit wem? Stand irgendwann ein Homo wasauchimmer auf und war beseelt, aber alle vor ihm nicht? Er war beseelt, aber Cousin Neandertaler nicht? Sind Menschenaffen auch Seelenträger – und Nashörner und Giraffen auch? Reinkarnieren wir mit ihnen in derselben Gruppe?
Und es geht noch komplizierter. Die aktuelle Weltbevölkerung beträgt über 6 Prozent aller seit 50.000 vor der Zeitenwende geborenen Menschen. Um die Zeitenwende lebten ca. 300 Millionen Menschen. Um das Jahr 1000 waren wir immer noch bei ca. 310 Millionen Menschen. Also stagnierte die Weltbevölkerung tausend Jahre auf demselben Niveau. Erst um das Jahr 1500 wuchs die Weltbevölkerung auf 500 Millionen an.
Insgesamt geht man von ca. 106 Milliarden jemals geborener Menschen aus – die alle durch den engen Reinkarnationsschlauch der Zeit zwischen Zeitenwende und dem Jahr 1000 gehen mussten, bei einer stagnierenden Weltbevölkerung von 300 Millionen. Wenn wir davon ausgehen, dass jeder der aktuell lebenden 8 Milliarden Menschen eine Seele hat, ergibt das ziemlich lange Wartezeiten für die Reinkarnation.[18] Oder andersherum: 6 Prozent der Weltbevölkerung leben aktuell von den ca. 2.000 Generationen seit 50.000 vor Christus.
Nur einmal angenommen, ein kompletter Generationenwechsel (nicht eine Generation), also der Austausch der Bevölkerung, hätte 50 Jahre gedauert, und die aktuellen 8 Milliarden Menschen sind alle beseelt, dann wäre bei der stagnierenden Weltbevölkerung von 300 Millionen Menschen Weltbevölkerung über 1000 Jahre circa alle 27 Durchgänge Zeit gewesen für eine Reinkarnation. Das hieße, dass man rechnerisch nach 27 mal 50 Jahren reinkarniert wäre – das ist eine Spanne von 1.350 Jahren.
Da bleibt nicht viel Platz für mehr als eine Reinkarnation in der Blütezeit der Wikinger – oder die sind eben alle im Heidentum angekommen, weil sie damals geboren worden sind. Das führt aber auch dazu, dass keiner von den reinkarnierten Wikingern im ersten Anlauf den Weg nach Walhall oder Folkwang geschafft hat – was eine Menge über das zur Verfügung stehende heidnische Personal aussagt.
Aber auch hier bleibt das rechnerische Problem, dass es nur eine reinkarnierte Kleopatra, nur einen Napoleon und eben auch nur einen reinkarnierten Harald Blauzahn geben kann. Und selbst wenn wir diese auftreiben würden – was wurde aus dem Rest der Bevölkerung und warum kann sich daran keiner erinnern, der Bücher über das Thema schreibt?
Hier bleibt als Fragesteller immer Bertold Brecht mit den Fragen eines lesenden Arbeiters übrig:
"Wer baute das siebentorige Theben?
In den Büchern stehen die Namen von Königen.
Haben die Könige die Felsbrocken herbeigeschleppt?
Und das mehrmals zerstörte Babylon,
wer baute es so viele Male auf? In welchen Häusern
des goldstrahlenden Lima wohnten die Bauleute?
Wohin gingen an dem Abend, wo die chinesische Mauer fertig war,
die Maurer? Das große Rom
ist voll von Triumphbögen. Über wen
triumphierten die Cäsaren? Hatte das vielbesungene Byzanz
nur Paläste für seine Bewohner? Selbst in dem sagenhaften Atlantis
brüllten doch in der Nacht, wo das Meer es verschlang,
die Ersaufenden nach ihren Sklaven.
Der junge Alexander eroberte Indien.
Er allein?
Cäsar schlug die Gallier.
Hatte er nicht wenigstens einen Koch bei sich?
Philipp von Spanien weinte, als seine Flotte
untergegangen war. Weinte sonst niemand?
Friedrich der Zweite siegte im Siebenjährigen Krieg. Wer
siegte außer ihm?
Jede Seite ein Sieg.
Wer kochte den Siegesschmaus?
Alle zehn Jahre ein großer Mann.
Wer bezahlte die Spesen?
So viele Berichte,
so viele Fragen."
Noch schlimmer wird es, wenn wir wirklich mit allen anderen denkenden Wesen der neun Welten reinkarniert werden. Einfach ausgedrückt: Je mehr Menschen geboren werden, um so weniger Zwerge können beseelt sein. Oder Schwarzalben. Das erklärt wahrscheinlich, warum die alle so sauer auf uns sind und keinen Kontakt mehr haben möchten. Dann wäre die Klimaerwärmung ein Versuch der Schwarzalben, ihre beseelte Population zu retten, indem sie uns ausrotten.
Und wird die Seelenzahl nicht geringer, weil die in Walhall etc. nicht reinkarniert werden? Je voller die Hallen in Folkwang werden, um so leerer sollte Midgard werden. Das Gegenteil ist der Fall.
Die letzte Möglichkeit zur Lösung dieses Problems – und sicherlich die prosaischste – ist ein Schwächer-Werden der Seele, weil weniger Seelenmaterial vorhanden ist. Während also um die Zeitenwende 300 Millionen menschliche Wesen in Midgard zu beseelen waren – plus eine Zahl X für die acht anderen Welten – und wenn wir davon ausgehen, dass die Bevölkerungszahl X der anderen Welten ungefähr stabil blieb, dann verteilt sich dieselbe Seelenmenge jetzt auf 8 Milliarden Menschen, also eine ungefähr 27 mal so große Menschheit plus X. Das würde erklären, warum wir alle so unbeseelt aussehen.
An dieser Stelle spare ich mir einen längeren Exkurs über unbelebtes Leben. Die Zombie-Apokalypse hat ja das atomar erzeugte Ungeziefer a la Godzilla fast verdrängt, weil unsere aktuellen Ängste als Kultur immer jene Wesen hervorrufen, die wir am meisten fürchten. Der künstliche Mensch – Frankensteins Monster – als Konkurrenz zum natürlichen Wesen, der Vampir Dracula als unsterblicher Blutsauger und Wesen der Nacht, ein Nosferatu halt, der an den Stellen lauert, wo die Tünche der Zivilisation nur dünn ist. Unbeseeltes Leben: Das sind eigentlich Wiedergänger ohne Seele, also ist die Seele des Zombies ganz woanders, willig sich zu inkarnieren, während nur der Sack aus Fleisch weiter unterwegs ist, um Schaden anzurichten. Schwieriger wird das beim Voodoo, weil wir hier von beseelten Menschen sprechen, die in willenlose Sklaven verwandelt werden. Aber der Zombie ist ein Wesen, das eine Veränderung seiner Beschreibung mitgemacht hat – ähnlich wie der Yeti oder die lustigen grauhäutigen Außerirdischen, die so gerne Sonden in dafür ungeeignete menschliche Körperöffnungen einführen.
Der Zombie wäre aber eine Lösung des Seelenproblems: Wer noch nie das Gefühl hatte, dass viele Kollegen eigentlich seelenlose Zombies sind, der werfe den ersten Stein.
Nur damit ich es gesagt habe: Natürlich kann es sein, dass es die anderen Kontinente schon lange nicht mehr gibt. Der Schöpfung gehen die Seelen aus und nur noch Mitteleuropa wird daher beseelt. Der Rest der Welt ist eine – man muss sagen: schlecht gemachte – Illusion. Das ist eurozentrisch, rassistisch und überhaupt keine gute Idee, aber da man ja keinen Irrsinn ignorieren darf, weil sonst jemand anders daraus einen YouTube-Film macht, möchte ich es als Theorie hier genannt haben.

Ahnenverehrung
Einen Ausweg bietet tatsächlich die Ahnenverehrung. Herrmann schreibt:
"Noch jetzt ist in Norwegen die Meinung, wenn eine schwangere Frau von einem Verstorbenen träumt, dass dieser »nach dem Namen gehe«, d.h. sich einen Namensvetter suche. (…) Erst nach dem Übertritt zum Christentum fing man an, dem Kinde allenfalls auch den Namen eines noch lebenden Angehörigen zu geben."[19]
Dann wäre alles etwas einfacher. Wir reinkarnieren in Gruppen und finden uns durch die Jahrhunderte wieder. Damit behalten wir unser Seelenpotenzial und diskutieren keine Viertelsekunde lang die anderen Seelen.
Das erklärt natürlich das immense Gemeinschaftsgefühl des modernen Asatru, weil wir alle die Überlebenden des Reiches von Gnadovatz dem Kühnen sind, der 1014 ein großes, blühendes, friedliches, demokratisches Gemeinwesen in Nordnordwegen beherrschte, wo Frauen gleiche Rechte hatten, Homosexuelle nicht benachteiligt waren, völlige Meinungsfreiheit herrschte und es jeden Freyatag veganes Essen gab. Eine innere Stimme sagt mir, dass das unrealistisch ist.
Dazu kommt, dass die gemeinsam reinkarnierte Gruppe auch eine statische Größe hat, weil die „Seelenmenge“ gleich bleibt (oder will jemand zugeben, dass er in einer Gruppe inkarniert, seine Seele aber von Inkarnation zu Inkarnation kleiner also schwächer wird?).

Schlussworte
Wir können am Mysterium nur kratzen. Der Tod bleibt die letzte große Frage jeder Entwicklung – wir werden ihn nicht besiegen, wahrscheinlich nicht einmal verstehen. Eine schöne Frage, die mir beim Nachdenken über das Thema sehr geholfen hat, lautet wie folgt: Wenn wir rückwärts leben würden, hätten wir dann Angst vor der Geburt?
Wir können uns an die Geburt nicht erinnern, die frühe Kindheit ist für viele Menschen nicht oder maximal bruchstückhaft erinnerbar, und wer älter wird, der erkennt, wie viel Gnade – und ich meine das nicht im christlichen Sinne – wie viel Gnade in dem Umstand liegt, dass wir vergessen können. Wir müssen nicht alles wissen, denn sonst nehmen wir dem Mysterium – der Grundlage des Mythos – den Raum.
Die Seele bleibt ein Mysterium. Und ich kann und will auch keine Antworten geben. Vielleicht ist es das Rätsel im Rätsel, das sich in der Edda dann widerspiegelt, wenn sie von der Beseelung der Menschen spricht:
"Besaßen nicht Atem / und Seele noch nicht,
Nicht Lebenswärme, / noch lichte Farbe.
Atem gab Odin, / Hönir gab Seele,
Leben gab Lodur und lichte Farbe."[20]
Wir wissen nicht, wer Hönir war. Aber er überlebt Ragnarök – so als würde man den Seelengeber Hönir danach noch brauchen.
Und darin liegt schon mehr Mysterium als in der ganzen Zombie-Geschichte.

Literatur
Beck, Henning: 12 Gesetze der Dummheit. Berlin, 2023.
GardenStone (d.i. Goos, Gunivortus): Germanischer Götterglaube. Norderstedt, 2009.
Herrmann, Paul: Nordische Mythologie. Berlin, 1995³ (Orig. 1903).
Simrock, Karl: Die Edda übertragen von Karl Simrock, herausgegeben von Prof. Dr. G. Neckel. Berlin, 1927.




  1. Friedrich Kluge: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Straßburg, 1899, S. 360.
  2. Kluge – Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Berlin New York, 2002, S. 837.
  3. Brockhaus‘ Kleines Konversations-Lexikon, Zweiter Band. Leipzig, 1906, S. 679.a
  4. Mackensen: Deutsches Wörterbuch. Waltrop Leipzig, 2006, S. 959.
  5. Bibel, Neues Testament, Markus 8, 28.
  6. Ausführlich hierzu: https://de.wikipedia.org/wiki/Elija (25.03.2024).
  7. Bibel, Neues Testament, 1. Korinther 15, 45.
  8. Bibel, Altes Testament, 1. Mose 2, 7.
  9. Simrock, S. 167.
  10. Simrock, S. 218.
  11. Simrock, S. 223.
  12. GardenStone, S. 35.
  13. Ebenda, S. 37.
  14. Nach Beck, S. 19.
  15. Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Gaia-Hypothese; 03.04.2024.
  16. https://de.wikipedia.org/wiki/Star_Wars#Die_Macht; 03.04.2024
  17. https://de.wikipedia.org/wiki/Mensch; 27.03.2024. Für den Begriff: www.spektrum.de/lexikon/biologie/genfluss/27310; 16.07.2024. Für den Genfluss Homo Sapiens, Neandertaler und Denisova: www.spektrum.de/news/svante-paeaebo-der-genetiker-der-den-neandertaler-in-uns-fand/2063172; 16.07.2024 (Dank an Petra Bolte für die Hinweise.).
  18. Zahlen nach https://de.wikipedia.org/wiki/Weltbev%C3%B6lkerung#Historische_Entwicklung_der_Weltbev%C3%B6lkerung; 27.03.2024.
  19. Herrmann, S. 23 f.
  20. Simrock, S. 167.