Thingstätten
Katharina Bosse (Hrsg.)
Thingstätten
ISBN 978-3-943164-54-1
Geymüller, Verlag für Architektur
o.O., 2021
Auf dem Umschlagrücken heißt es: "Thingstätten wurden 1933 bis 1936 als propagandistische Freilichtbühnen und Versammlungsplätze des Nationalsozialismus erbaut. 400 waren geplant, etwa 60 wurden errichtet, viele davon sind heute noch in Deutschland, Polen und Russland auffindbar." Um das Projekt, diese Orte zu identifizieren und zu dokumentieren, rankt sich unter der Federführung von Frau Bosse ein interdisziplinärer Ansatz mit 23 Künstlern und Wissenschaftlern. Um weiter den Umschlagrücken zu zitieren: "… die sich auf Spurensuche begeben haben zu diesen bis heute wenig bekannten geschichtlichen Orten."
Angenehm ist, dass das Buch mit einigen erklärenden Artikeln eingeleitet wird. Da gibt es den Artikel "Thingstätten" von Bosse, Gerwin Strobl schreibt über "Die »Volksgemeinschaft« unter freiem Himmel: Thing(spiel)bewegung und Thingstätten", Bosse dann wiederum über "Nationalsozialismus und Karl May". Ohne diese Texte wären die Bilder unverständlich, weil ihr Kontext nicht klar wäre.
Aber primär las ich dieses Buch nicht als Historiker, sondern als Heide. Interessant ist einerseits, was man als Heide aus dem Buch herauslesen kann. Bei Strobl heißt es: "Das Wort (Thing, HR) selbst fiel dem Tabu anheim. In einem Geheimerlass erhielt die Presse Anweisungen zu strengster Zensur – falls nötig, sollte das Wort »Thing« sogar in den Reden von angesehenen Persönlichkeiten getilgt werden." Das war mir bisher nicht bekannt. Dieser Befehl aus dem Jahr 1935 heißt doch im Umkehrschluss, dass der Begriff Thing von den Nazis nicht mehr benutzt wurde – und damit für uns heute nutzbar ist, ohne "kontaminiert" zu sein.
Auch "mystisch" ist die Schilderung interessant. Die Einschätzung der Orte ist klar. Wunsch schreibt über die NS-Ordensburg Vogelsang: "… ist ein sozusagen vom Nationalsozialismus kontaminiertes Gelände." Und die Künstler ziehen zum Teil daraus die Folgerung, dass man diese Orte reinigen muss. Daher kommen dann Berichte über "Rituale" an den Thingstätten. Ein Beispiel: "Das umfangreichste Kunstprojekt in Herchen wird unter der Leitung des US-amerikanischen Künstlers und Regisseurs Doug Fitch durchgeführt. Es ist eine Performance, die die Thingstätte zurück in eine Bühne verwandelt, allerdings nicht für ein Publikum, sondern sozusagen mit ihm: Oberstufenschülerinnen aus Herchen stellen die tibetanische Gottheit Yamantaka als Überwinder des Todes dar. In dem performativen Prozess wird der Ort einer heilenden Wandlung unterzogen." Wie man sich vorstellen kann, sind die Bilder dazu mit die am wirkungsmächtigsten im Buch (der Titel des Fototeils dazu lautet auch passenderweise "Yamantaka, Killer of Death, Reconsecrates Herchen Thingstätte"). Hier wird das Buch wirklich zum Bildband, weil man blättert, innehält, in den Darstellungen versinkt.
Die einzelnen, unterschiedlich langen Berichte über die Thingstätten sind hochinteressant. Ich wusste nicht, dass das aus den Karl May-Festspielen bekannte Freilichttheater in Bad Segeberg eine Thingstätte war. Überhaupt: Die Fotos. Unfassbarer Zugang zu den Orten, von einfach und "nur" hübsch bis hin zu künstlerisch aufwendig. Die Thingstätte bei Heidelberg habe ich selbst vor Jahrzehnten besichtigt, die Bilder wecken Erinnerungen, wie Fotos in einem alten Fotoalbum. Oft ist es die Gegenüberstellung von aktuellem Bild und historischem Dokument (viele Male sind es Postkartenmotive), die nicht nur den Gang der Zeit, sondern auch die Vergänglichkeit des Monumentalen sichtbar machen.
Auch Einzeldarstellungen sind hochinteressant. "Die Ästhetisierung von Gewalt und Politik", der Text von Bernhard Gelderblom zu Bückeberg und dem "Reichserntedankfest" (nein, den Begriff habe ich nicht erfunden) sind unfassbar informativ, die begleitenden Bilder über diese Groß-Anlagen beeindruckend.
Am Ende gibt es ein "Thingstätten Register" zu den dargestellten Orte samt einer Überblickskarte der in Großdeutschland geplanten Thingstätten. Abschließend folgt ein Hinweis auf die weitere Arbeit am Thema: "Die offen zugängliche Wissensdatenbank zu dem Thingstätten Projekt enthält zahlreiches aktuelles und historisches Material. Recherchen, Forschung und Videointerviews bieten die Gelegenheit, sich mit ForscherInnen, Archiven und KünstlerInnen zu vernetzen. www.thingstaetten.info."
Achja, zwei Ärgernisse. Erstens: Ich mag kein Binnen-I. Zweitens: Das Buch ist mehrsprachig, ohne dass darauf hingewiesen wird, was bei Englisch und Deutsch meist kein Problem ist. Aber der historische Text auf Seite 153 ist auf Polnisch – hier hätte eine Übersetzung gut getan.
Insgesamt: Wer sich für das Thema interessiert, ist supergut bedient. Wer Fotoprojekte mag, ist hier ebenfalls richtig.